Dringlich, relevant und echt: Zoe Wees vertextet ihrer Lebensgeschichte zu großer Popmusik.

Foto: Jeff Hahn

Vor vier Jahren war Zoe Wees noch so jung, dass sie bei der deutschen Castingshow The Voice Kids teilnehmen konnte. Da müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei sogenannten "Blind Auditions" mit der Stimme überzeugen. Die Jury bewertet also nicht die Bühnenpräsenz, das Aussehen und Outfit, sondern tatsächlich nur "the voice". Zoe Wees steht da also in Jeans und Kapuzenweste auf der Bühne und sieht nicht so aus, als würde sie die Popwelt gleich im Sturm erobern. Sobald die damals 15-Jährige aber den Mund aufmacht, weiß man, man hat es mit einer Naturgewalt zu tun.

The Voice Kids

Vor einer Woche ist Zoe Wees 19 Jahre alt geworden. Meistens trägt die junge Hamburgerin nun zwei bunte lange Zöpfe und auffällige Streetwear. Sie sieht nun genauso cool aus, wie man es sich von einem Popstar der Generation Z erwartet. Mit der Powerballade Control gelang Wees vor einem Jahr ein viraler Hit. Das dazugehörige Video wurde mittlerweile 41 Millionen Mal auf Youtube aufgerufen. Von internationalen Größen wie Lewis Capaldi und Jessie J wird sie bejubelt und durfte bereits in den amerikanischen Late-Night-Shows von James Corden und Jimmy Kimmel auftreten.

Wo sich Stars selbst machen

Wie hat sie es gemacht? Dass singen zu können im Popbiz nicht reicht und nie gereicht hat, ist kein Geheimnis. Dass es immer eine große Portion Glück braucht, um den Durchbruch zu schaffen, auch nicht. Trotzdem hat die Tochter einer Alleinerzieherin nicht darauf gewartet, entdeckt zu werden. Früh entschied sie sich gegen die Schule und für den Gesangsunterricht – dass sie den sehr ernst nahm, hört man ganz deutlich, vergleicht man ihren jugendlichen Auftritt als Rohdiamant bei The Voice Kids mit der respektgebietenden Stimmkontrolle, die sie heute an den Tag legt.

Nachdem die Töne saßen, nahm Wees ihr Schicksal in Form eines Smartphones selbst in die Hand und baute sich mit hochprofessionell gefilmten Covers dort eine große Followerschaft auf, wo sich heute Stars selbst machen: auf der App Tiktok. Als die 100.000-Follower-Marke überschritten war, veröffentlichte Wees 2020 im März ihre erste Single Control – und die hatte es in sich.

Zoe Wees

Wees, die unter einer speziellen Form der Epilepsie leidet, singt auf der Nummer über die Angst vor dem Kontrollverlust, mit der sie noch immer kämpft, obwohl sie ihre Krankheit mittlerweile gut im Griff hat. Sie bricht in Form der hochemotionalen Nummer eine sehr persönliche Geschichte so runter, dass sich so gut wie alle damit identifizieren können. Individuelles Erleben auf den größtmöglichen gemeinsamen Nenner zu bringen ist natürlich ein altbekanntes Poprezept. Doch nur weil das Rezept gut ist, heißt das noch lange nicht, dass das Menü dann auch mundet. In Wees Fall tut es das aber: Obwohl völlig klar ist, welche Tasten auf der großen Klaviatur der Emotionen gedrückt werden, macht das Wees Geschichten nicht weniger dringlich, relevant und echt. Das gilt auch für die anderen Songs der gerade erschienenen EP Golden Wings: So geht es in Girls like us um die Verunsicherung junger Frauen angesichts von Schönheitsidealen, Hold me like you used to handelt vom Verlust geliebter Personen. Jedes Wort, das Wees da kraft ihrer umwerfenden Stimme rausschmettert, glaubt man ihr.

ZoeWeesVEVO

Den Sound von Wees’ Musik erkennt man zwar als ein Produkt der 2020er-Jahre, trotzdem wurde hier nicht auf aktuelle Trends wie die EDM-isierung von Pop aufgesprungen. Auch Trap-Beats, Autotune, Flöten oder seltsame Gitarren-Loops, wie sie gerade en vogue sind, hat man sich dankenswerterweise gespart. Stattdessen setzte man auf puren, melodiösen Mainstream-Pop mit Pianos in Moll und Geigenarrangements, die James Bond zu Tränen rühren würden.

True Story, gut erzählt

In früheren Zeiten hätte ein "girl like Zoe" trotz der famosen Stimme vielleicht keinen Major-Label-Pattenvertrag bekommen, vermutlich weil sie den Schönheitsidealen der Industrie nicht entsprochen hätte. Dass das Personal des Popbetriebs in den letzten Jahren diverser, die verhandelten Themen breiter und komplexer geworden sind, ist sicherlich Apps wie Tiktok zu verdanken, auf denen Menschen wie Wees ohne Mittelsmann ein riesiges Publikum finden.

Doch übt das Versprechen dieser Apps, dass also heute wirklich jede und jeder Popstar werden kann, wenn man nur den einen viralen Moment kreiert, extremen Druck auf junge Künstlerinnen und Künstler aus. Zwar können sie viel stärker als früher entscheiden, wie sie sich präsentieren wollen, worüber sie singen, wie sie sich anziehen, doch sind die Musikerinnen und Musiker heute zugleich ihr eigenes Social-Media-, Styling-Team und Management, das die Vermarktung gleich bei der Kreation der Inhalte mitdenkt.

Zoe Wees ist dafür ein gutes Beispiel: Sie hat ihr persönlich Erlebtes zur Basis ihrer Künstlerpersona gemacht, füllt die Rolle der junge Frau, der Schicksalsschläge widerfahren sind, die gerade aus einer Außenseiterposition zum Star wird, perfekt und sehr bewusst aus. Weil sie weiß, dass das eine Geschichte ist, die Menschen noch lieber hören als ihre ausgezeichnete Musik. (Amira Ben Saoud, 27.5.2021)