In letzter Zeit mehrten sich die Mahnungen, mit dem Rechtsstaat sorgsamer umzugehen. Nicht verwunderlich, denn immer öfter wurden in Österreich zuletzt Grundsäulen des Staates infrage gestellt. Die verspäteten Aktenlieferungen des Finanzministeriums an das Parlament, erst unter dem Druck der Exekution durch den Bundespräsidenten vollzogen, lieferten ein anschauliches Beispiel.

Ab 1945 erlebte Österreich, ganz im Einklang mit der freien westlichen Welt, den Aufbau und immer weiteren Ausbau des modernen Rechtsstaats. Der Rechtsstaat – eng verbunden mit dem demokratischen System, mit dem System der Trennung der drei Staatsgewalten (Verwaltung, Gesetzgebung, Justiz) und den Menschenrechten – bedeutet die strikte Bindung aller Institutionen an das Recht: Die gesamte Verwaltung darf nur aufgrund der Gesetze handeln (Legalitätsprinzip), die unabhängigen Gerichte legen die Gesetze aus, und auch das Parlament als Gesetzgeber bewegt sich nur in einem rechtlichen Rahmen, nämlich dem der Verfassung – soll die Verfassung in ihrem Kern verändert werden, so geht das nur im Wege einer Volksabstimmung.

Infragestellung der Rechtsstaatlichkeit

Die Phase des Auf- und Ausbaus des Rechtsstaats ist irgendwann vor einiger Zeit in eine Phase der Verteidigung des Rechtsstaats übergegangen – in Österreich, aber auch in vielen anderen Staaten. Ein Politikertypus mit autokratischen Zügen gewinnt an Einfluss und stellt bisherige rechtsstaatliche Selbstverständlichkeiten infrage. Der frühere italienische Ministerpräsident lieferte sich ein jahrelanges Match mit der Justiz, deren Unabhängigkeit er brechen wollte – letztlich erfolglos. In Polen und Ungarn konnten die Regierungen zentrale Teile des Justizwesens unter Kontrolle bringen – die für Demokratie und Rechtsstaat wichtige Gewaltenteilung ist aufgehoben. Der letzte US-Präsident Donald Trump legte sich mit nahezu allen anderen staatlichen Institutionen an – und führte das Land in seinen letzten Tagen an den Rand des Bürgerkriegs, wenn man sich an den Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 erinnert.

Der Sturm auf das Kapitol zeigte, wie schnell der Rechtsstaat bedroht werden kann.
Foto: EPA/MICHAEL REYNOLDS

Das Beispiel USA zeigt uns, dass Rechtsstaat und Demokratie auch in an sich stabilen Staaten mit gefestigten Institutionen ins Rutschen kommen können, und zwar schnell. Und das Beispiel Trump weist uns auf einen weiteren wichtigen Umstand hin: Die beste Verfassung, das beste Rechtssystem, die stärksten Institutionen helfen wenig, wenn zentrale Akteure des Staates über keine demokratische und rechtsstaatliche Gesinnung verfügen. Unser ganzes gesellschaftliches System vertraut darauf, dass sich Amtsträger wechselseitig respektieren und Entscheidungen wechselseitig anerkennen. Darum ist es so gefährlich, wenn Mitglieder der Bundesregierung einen Ausschuss des Parlaments mit der Löwinger-Bühne vergleichen oder einer Aufforderung des Verfassungsgerichtshofs nicht unverzüglich Folge leisten: Es fehlt ihnen am Respekt vor der verfassungsrechtlichen Grundordnung. (Oliver Scheiber, 31.5.2021)