Am Landesgericht für Strafsachen Wien kommt es bei einem Verfahren gegen eine 33-Jährige zum seltenen Fall, dass sowohl Anklagevertreterin als auch Richter ein Geständnis nicht glauben.

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Wien – Richter Stefan Romstorfer gibt am Ende des Verfahrens gegen Frau S. das Offensichtliche selbst zu: "Es kommt selten vor, dass man jemanden freispricht, der geständig ist." Die unbescholtene 33-Jährige soll den Vater ihres Kindes verleumdet haben, indem sie ihn am 23. März bei der Polizei wegen fortgesetzter Gewaltausübung anzeigte. Zwei Tage später zog sie die Aussage zurück. Und auch vor Gericht bleibt S. dabei: Der Mann habe sie nie geschlagen, sie habe gelogen. Nur glauben ihr das weder die Staatsanwältin noch der Richter.

Aber der Reihe nach: Vor rund zwei Jahren lernte Frau S. den jüngeren Herrn A. kennen, bald wurde sie schwanger. Das Kind wurde ihr allerdings vom Jugendamt abgenommen, was sie überhaupt nicht versteht. "Vor 14 Jahren habe ich mein erstes Kind ein einziges Mal misshandelt, danach wurde es mir abgenommen. Das zweite wurde mir noch im Spital weggenommen und ist jetzt schon bei der zweiten Pflegefamilie", erzählt S. dem Richter. Sie bemühe sich um das Sorgerecht, aber eine Richterin an einem Bezirksgericht habe beispielsweise in einem Urteil wahrheitswidrig geschrieben, es sei kein Vater angegeben, obwohl in der Geburtsurkunde sehr wohl A. als solcher aufgeführt sei.

"Die Beziehung ist stabil, wir lieben uns"

Mit dem pakistanischen Asylwerber lebe sie zwar nicht zusammen. Aber: "Die Beziehung ist stabil, wir lieben uns", hält die Angeklagte fest. "Wenn alles so gut funktioniert: Was bewegt Sie dann dazu, bei der Polizei eine ausführliche Aussage zu machen, dass A. Sie seit einem Jahr regelmäßig misshandelt?", fragt Romstorfer. S. erschien im März nämlich mit ihrer Mutter bei der Polizeiinspektion, die Beamten fertigten damals auch Lichtbilder an – von Hämatomen im Gesicht, auf den Oberarmen und den Knien.

"Also, ich glaube ...", beginnt die Angeklagte, wird vom Richter aber unterbrochen. "Seien Sie mir nicht böse, Frau S., aber wenn ich so was mache, dann weiß ich das, das glaube ich nicht." Die Notstandshilfebezieherin versucht es anders: Ihrem Freund drohe die Abschiebung. "Ja aber das hilft ihm dann ja nicht, wenn Sie ihn anzeigen?", ist Romstorfer verwirrt. Die Angeklagte windet sich, spricht schließlich davon, sie sei wütend gewesen, will das aber nicht näher ausführen.

Blaue Flecken von "härterem Sex"

Die Staatsanwältin versucht es nochmals: "Gab es am 23. März irgendeinen Trigger, der Sie zur Anzeige gebracht hat?", will sie von der Angeklagten wissen. "Es gab einen verbalen Streit. Dann bin ich zu meiner Mutter gegangen, die habe ich auch angelogen, damit sie mit mir zur Polizei geht." Die blauen Flecken würden vom "härteren Sex" mit A. stammen.

Das bestätigt dieser bei seiner Zeugenaussage. Das Verfahren gegen ihn wurde eingestellt, nachdem S. ihre Aussage zurückgezogen hatte. A. beteuert, nie gewalttätig gewesen zu sein. "Was war am 23. Mai?", fragt der Richter. "Damals ist meine Schwester gestorben. Ich habe zwei Tage nichts mit S. geredet und nur geweint", behauptet der Zeuge. "Haben Sie gestritten?", will Romstorfer wissen. "Nein", lautet zunächst die Antwort. Die Staatsanwältin sekundiert. "Interessant, das ist nämlich, was Frau S. sagt." A. hält es nun doch für möglich, dass er etwas lauter geredet habe und die angeklagte Mutter seines Kindes das als Angriff empfunden habe. Eine Erklärung für die Anzeige hat er jedenfalls nicht.

Als Nächstes tritt die Mutter der Angeklagten auf. Die macht von ihrem Aussageverweigerungsrecht keinen Gebrauch und widerspricht ihrer Tochter. "Sie war oft bei mir und hat mir die Spuren gezeigt und gesagt, dass A. sie schlägt", schildert sie. Auch in früheren Beziehungen von S. sei diese Gewaltopfer geworden. "Ich bin auch Ausländerin", betont die in Jugoslawien geborene Mutter. "Ich hasse keine Ausländer. Aber wenn man jeden Tag schlägt, das ist nicht gut."

Flucht zur Halbschwester

Auch die Halbschwester von S. kann als Zeugin etwas berichten: "Einmal ist sie nach einem Streit zu mir gekommen und hat gesagt, er hat ihr das Handy an den Kopf geworfen, was eine blutende Wunde verursacht hat", erinnert sich die 44-Jährige. Es sei ungewöhnlich gewesen, dass S. extra durch die halbe Stadt gefahren sei. "Sie kommt eigentlich nicht zu mir, außer wenn sie Angst hat oder Geld braucht", sagt die Zeugin über ihre Halbschwester. Damals sei aber die gemeinsame Mutter nicht in der Stadt gewesen.

Auch ihre Tochter habe von blauen Flecken bei der Tante erzählt, die sie gesehen habe, wenn sie bei der Oma auf Besuch gewesen sei und S. vorbeigekommen sei. Und schließlich sei sie auch von gemeinsamen Bekannten angesprochen worden, wenn diese die Angeklagte auf der Straße mit einem blauen Auge gesehen hätten.

Ungewöhnliche Rollenumkehr

Am Ende des Verfahrens kommt es zu einer ungewöhnlichen Rollenumkehr. Die Staatsanwältin hält zwar die Anklage wegen Verleumdung und falscher Beweisaussage aufrecht und überlässt dem Richter die Beweiswürdigung. Gleichzeitig wendet sie sich aber auch direkt an S.: "Ich kann nur hoffen für Sie, dass Sie sich aus dieser Gewaltbeziehung lösen können. Es wird erfahrungsgemäß nicht besser", stellt sie klar.

Die Verteidigerin wiederum will zunächst die Glaubwürdigkeit der Mutter der Mandantin in Zweifel ziehen, wird aber vom Richter unterbrochen. "Ich mach das normalerweise nicht, aber wenn sogar die Staatsanwältin eigentlich einen Freispruch fordert, müssen Sie sich dem eigentlich nur noch anschließen", sagt Romstorfer, was die Verteidigerin dann auch macht.

"Das wird nicht gut ausgehen"

Wenig überraschend fällt der Richter dann auch den rechtskräftigen Freispruch. "Ich sehe das genauso wie die Frau Staatsanwältin", begründet er. "Sie haben A. nicht verleumdet, und Sie haben nicht falsch ausgesagt", zeigt Romstorfer sich überzeugt. "Ich fühle mich jetzt verpflichtet, Ihnen eindringlich ins Gewissen zu reden – ich verstehe, dass Sie in einer schwierigen Situation sind, das Kind wird Ihnen abgenommen und Sie klammern sich am Kindsvater fest. Aber das wird nicht gut ausgehen. Auch Sie werden Medien konsumieren und wissen, dass zu viele Frauen in Österreich von ihren Partnern oder Ehemännern getötet werden."

Auch nach dem Freispruch bleibt S. aber dabei: "Ich habe gelogen. A. hat mich nie geschlagen!", beharrt sie. "Das glaubt Ihnen keiner hier!", klärt der Richter sie auf und empfiehlt ihr noch, sich an eine Unterstützungseinrichtung zu wenden. (Michael Möseneder, 27.5.2021)