Zumindest im Mercedes geht es gleich ein wenig zur Sache: "Carmen" im Haus am Ring.

Foto: Michael Pöhn

Die Liste der Begriffe, deren Bedeutung vor anderthalb Jahren ein völliges Rätsel gewesen wäre, wird täglich länger. Wer hätte Anfang 2020 gewusst, was 2021 eine "Premiere vor Publikum" bedeuten würde? An der Staatsoper heißt das, dass Georges Bizets Carmen in der zweiten Aufführung der neuen Inszenierung – die erste vor knapp halbvollem Saal – mit zwei neuen Rollendebüts in den Titelpartien aufwartete. Der Direktor beherrscht die Ökonomie der Aufmerksamkeit souverän!

Er weiß aber auch, dass sein Haus vor allem alltagstaugliche Regiearbeiten benötigt. Eine solche ist die nur für Wien neue Version von Calixto Bieito allemal: Trotz der betont drastischen Dosis von Sex und Gewalt zwischen Telefonzelle und Mercedes (originell allein durch die Namensgleichheit mit einer Freundin der Protagonistin) ist sie ein im Grunde biederes, uninspiriert wirkendes szenisches Arrangement. Geprägt von meist fade aufgefädeltem Chor und einer Personenführung, in der locker kurzfristige Umbesetzungen eingefügt werden können. Platte Bühnengesten reichen.

Immerhin das Finale geht unter die Haut

Manche Bilder werden dadurch langatmig und statisch – trotz quirliger Aktivitäten und inhaltlich nicht immer nachvollziehbarer, assoziativer Tanzeinlagen. Schlüssig wäre der Jubel der Menge zu Beginn des vierten Aktes in den Zuschauerraum, wenn dem Regisseur mehr als Hopsen und Winken eingefallen wäre.

Dass immerhin das letale Finale unter die Haut geht, verdankt sich vor allem dem vollen Einsatz des zentralen (Längst-schon-nicht-mehr-)Liebespaares: Michèle Losier gelingt als Carmen der Spagat zwischen Dauerflirt in alle Richtungen und eigenen Neigungen ebenso elegant wie expressiv. Dmytro Popov (José) nimmt man seine grundsolide Verzweiflung ebenso ab wie Vera-Lotte Boecker die glühenden, religiös überhöhten Liebesbotschaften der Micaëla.

Publikumsliebling Erwin Schrott zeigt als Escamillo nicht viel mehr als zugegebenermaßen voluminöses Knödeln und eine zweite, leisere Farbe, die ihm nicht anders als nasal möglich zu sein scheint. Und Andrès Orozco-Estrada dirigiert mit geradezu demonstrativem Elan und mit Schmiss im doppelten Wortsinn: Das feurige Orchester flackert und wackelt, sodass sich nicht nur ins Schmugglerquintett einige Unschärfen schleichen. Schlussjubel: ungetrübter Wohlklang. (daen, 28.5.2021)