Die bahnbrechende britischen Formation Seefeel.

Foto: Warp

Nachdem mittlerweile auch Leute, die ihre Jugend in den (frühen) 1990er-Jahren verschwendeten, zu jener Lebensmitte gelangen, ab der hinten mehr los war als vorn noch sein wird, gilt es heute schon wieder einen Schatz aus dieser Zeit zu heben: Die Best-Ager haben das Geld und den Willen für CD-Boxen mit Musik von früher. Da geht was!

Das frischfrisierte Gesamtwerk von My Bloody Valentine wurde an dieser Stelle jüngst gewürdigt. Und auch die britische Formation Seefeel kommt ursprünglich aus der klassischen Bandecke. Das 1993 auf dem Indie-Label Too Pure veröffentlichte Debütalbum Quique war mit seinen zu imposanten Gitarrenwänden und dem verträumten Gesang von Sarah Peacock tatsächlich auch noch in der Nähe von My Bloody Valentine und dem Shoegaze-Genre angesiedelt.

Wie sehr Seefeel sich kurz darauf allerdings dem Sound und nicht dem Song verpflichtet fühlten, zeigt jetzt eine vierteilige Box, die ausführlichst – und mit diversen Gustostückerln angereichert – die besten Jahre der Formation dokumentiert.

Radikaler Stilbruch über Nacht

Man kann auf Rupt + Flex 94–96 nachhören, wie eine auf ungewöhnliche Zugänge zum noch halbwegs intakten Songformat neugierige Gitarrenband sozusagen über Nacht trotz gleichbleibenden Instrumentariums einen radikalen Stilbruch sowie eine strikte Zurücknahme des Ausdrucks unternahm.

lesneveux

Seefeel war die erste Gitarren- bzw. Postrock-Band, die damals beim britischen Elektronik-Label Warp unterschrieb. Dieses sorgte Mitte der 1990er-Jahre mit Elektronik-Acts wie Aphex Twin oder Autechre für Furore. Es führte strenge Neue Musik aus der deutschen Metropole Stockhausen mit anarchistischen Stabmixergeräuschen, repetitiven Techniken aus der Dubmusik, dem Techno und dem Drum ’n’ Bass und schließlich auch einmal kräftig über Festplatten dröhnenden Ambient zusammen.

Im Zweifel also machten Seefeel so etwas Ähnliches. Repetitiv, minimalistisch und weitgehend testosteronfrei. Gitarrist Mark Clifford hatte sich mit elektronischer Musik zu beschäftigen begonnen. Er verfremdete nun die Gitarre endgültig bis zur Unkenntlichkeit. Sie diente dem reinen Effekt. Man kann mit durch den Computer gejagter Gitarre zum Beispiel zur See fahren und Möwenkreischen ebenso nachstellen wie ein Nebelhorn oder einen Kabelbrand im Maschinenraum. Irgendwo unten im Schiffsrumpf pocht der Klabautermann an die Bordwand. Keine Frage, das Schiff wird absaufen.

Seefeel - Topic

Sarah Peacock hatte beim Umzug zu Warp zudem ihre Lyrikmappe verloren. Ihre schöne Kirchenliedstimme war nur noch selten und dann weit entfernt und wortlos zu erahnen. Der Bassist und der Schlagzeuger waren auch da. Ein gemütlicher Job. All das klingt in 45 Tracks auf Rupt + Flex 94 – 96 noch heute extrem frisch und zeitlos modern. Wer sich einen Eindruck verschaffen will: Nach den Stücken Rupt und Rupt (Cut Mix) sowie Vex und Ruby-Ha weiß man, was man hat. Zwischenzeitlich löste man sich dann ab 1996 auf, immer wieder mal spielt man noch heute Konzerte. Neues Material gibt es schon länger nicht. Große Band. Easy. (Christian Schachinger, 29.5.2021)