Slimanis neuer Roman "Le pays des autres" ist in Frankreich bereits ein Bestseller.

Foto: Francesca Mantovani

Seit die junge französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani 2016 den Prix Goncourt für ihren Roman Chanson douce (Dann schlaf auch du) erhalten hat, der inzwischen auch verfilmt wurde, ist sie eine Art Shootingstar der französischen Literatur und Öffentlichkeit geworden. Kultusministerin, wie von Macron vorgeschlagen, wollte sie nicht werden, Botschafterin der frankophonen Welt ist sie inzwischen.

Aufgewachsen in Rabat als Tochter einer marokkanischen Ärztin mit elsässischen Wurzeln und eines marokkanischen Vaters, der Bankier und ehemaliger Staatssekretär für Wirtschaft ist, studiert Slimani nach ihrem Abitur in Paris und arbeitet als Journalistin. Schon ihr erster, 2014 erschienener Roman Dans le jardin de l’ogre, der letztes Jahr unter dem Titel All das zu verlieren auf Deutsch erschienen ist und tabulos die Selbstzerstörung einer jungen Nymphomanin aus besten Kreisen beschreibt, wird ein Erfolg.

Er zeigt ihr Talent, bestimmte Pariser Biotope wie mit dem Skalpell zu sezieren. Ihr zweites Buch Chanson douce ist ein beeindruckender Psychothriller mit der Wucht einer antiken Tragödie. Es entlarvt mit Chabrol’schem Blick schonungslos die Welt des schönen Scheins, die Kälte und Ausbeutung hinter den höflichen Fassaden.

Die Entkolonialisierung Marokkos

Ihr dritter Roman nun, den sie mit 38 Jahren vorlegt und der in Frankreich sofort ein großer Erfolg wird, wagt den weiten Bogen: Mit epischem Atem zwischen Familiensaga und Zeitroman changierend, erzählt er die Geschichte ihrer Familie zwischen Orient und Okzident, beginnend im Marokko des Jahres 1946 bis zur Unabhängigkeit 1956. Es ist der erste Band einer Trilogie, die bis ins Jahr 2015 reichen soll. Es ist auch die Geschichte der Entkolonialisierung Marokkos, ein Thema, das neu ist in der Literatur.

Angelehnt an die Lebensgeschichte ihrer Großeltern erzählt Leïla Slimani, wie die Beziehung zwischen der jungen, lebenslustigen Elsässerin Mathilde und Amine, dem marokkanischen Offizier in der französischen Befreiungsarmee gegen die Wehrmacht, dem sie in seine Heimatstadt Meknès folgt, zu scheitern droht – an den soziokulturellen Unterschieden, dem feindseligen Klima der Kolonialgesellschaft, den rigiden patriarchalen Strukturen und den engen Grenzen der traditionellen muslimischen Familie.

Mit exotischen Bildern des Romanciers und Marineoffiziers Pierre Loti im Kopf hatte Mathilde von einem Leben voller Abenteuer à la Tania Blixen geträumt. Aber der einsam gelegene Besitz Amines, steinig und wenig fruchtbar, ist keine Farm in Afrika.

Meknès ist vielmehr Garnisonsort und Stadt der Kolonialherren, ein Muster städtebaulicher Segregation. Im Land der Anderen leben beide, beide werden von der gesellschaftlichen Gruppe, der sie angehören, verachtet, ihre Verbindung wird von allen Seiten als Mesalliance angesehen, Szenen des alltäglichen Rassismus durchziehen den Roman.

Aus dem Abenteuer wird ein Albtraum

Für Mathilde beginnt die Ernüchterung gleich bei der Ankunft im fremden Land: "Hier angekommen, fühlte sie sich schutzlos, entwaffnet." Aus dem Traum von Freiheit und Abenteuer ist ein Albtraum von Entbehrung, Ausbeutung und Banalität geworden, vor allem nach der Geburt der beiden Kinder Aïcha und Selim.

Der Kontrast zwischen ihrem freudlosen Alltag und dem exotischen Leben, von dem sie geträumt hatte, könnte größer nicht sein, sie wird zu einer Art Emma Bovary des Bled, des Hinterlandes.

Die Schwierigkeiten des Paares häufen sich: Mathilde geht nicht mehr ins französische Viertel, weil sie dort beschimpft wird – "die hat sich von einem Araber schwängern lassen" –, Amine wiederum wird vorgeworfen, mit der "Feindin" zu schlafen, die Franzosen nennen ihn, den Offizier mit Kriegsauszeichnungen, Mohamed und kontrollieren ständig seine Papiere.

Zerrissenheit

Slimani zeichnet auch Amine in seiner ganzen Zerrissenheit: Unter dem Druck der harten Arbeit und der Sorgen verfinstert er sich immer mehr, es zeigt sich, dass sein Frauenbild von seiner Mutter geprägt ist, die nie eine Schule besucht, die Medina nie verlassen und sich stumm in ihre Rolle als Hausfrau gefügt hat: "Manchmal empfand er ein heftiges und grausames Bedürfnis, zu seiner Kultur zurückzukehren, von ganzem Herzen seinen Gott zu lieben, seine Sprache und sein Land. (...) Er wollte eine Frau wie seine Mutter, die ihn auch ohne Worte verstand (...), die wenig spricht und viel arbeitet."

In diesem ersten Band ihrer Trilogie hat die Autorin eine Liebesgeschichte erzählt, die alle Grenzen sprengt. Sie schildert den Kampf um Unabhängigkeit eines ausgebeuteten Landes und den der Frauen, die zweifach kolonisiert sind, durch das Joch der Franzosen und das der Männer. Trotz der polarisierenden Inhalte verzichtet sie auf jede Schwarz-Weiß-Malerei, zeigt die wesentlichen Figuren in ihren Widersprüchen und Zwängen.

Armut und Ausgrenzung

Der Roman zeichnet sich durch einen großen Reichtum an Emotionen aus, durch einen orientalisch grundierten Farbenklang und einen klaren, analytischen Blick, vor allem aber durch wunderbare Frauenporträts.

So wird Mathilde unter Verzicht auf ihre Träume schließlich zu einer unglaublich patenten Heldin des glanzlosen Alltags. Sie wird eine Meisterin in der Kunst, aus fast nichts viel zu machen, sie kocht und näht und dekoriert unermüdlich, hält an elsässischer Weihnacht ebenso fest wie an Gugelhupf und Linzertorte, auch wenn die Gerichte à la crème, die fetten Oberssaucen, nicht zum Klima passen.

Der Roman zeigt die zerstörerischen Auswirkungen des Kolonialismus auch in der nächsten Generation: Aïcha trägt das größte Gewicht der Schande. Trotz ihrer außergewöhnlichen Begabung wird sie in der Klosterschule wegen ihrer Herkunft verspottet und verhöhnt, aber auch ihren Eltern kann sie Armut und Ausgrenzung nicht verzeihen: Sie schämt sich für ihre ewig selbstgenähten Kleider und selbstgestrickten Unterhosen, für ihre blonde gekräuselte Haarmähne, die einem Heubüschel gleicht, vor allem für ihren Vater, den die wohldressierten Mitschülerinnen für den Chauffeur halten.

Man darf in der kleinen Rebellin ein begonnenes Porträt der Mutter von Leïla Slimani sehen und auf den nächsten Band der Familiensaga gespannt sein. (Barbara von Machui, ALBUM, 29.5.2021)