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Heimito von Doderer im Jahr 1966

Foto: Picturedesk.com / Imagno / Barbara Pflaum

Dass Heimito von Doderer (1896–1966), Österreichs literarisches Aushängeschild der Fünfzigerjahre, einst überzeugter Nationalsozialist war, ist kein Geheimnis. Lange wollte es so scheinen, als hätte er auch nie eines darum gemacht. Doderer habe seine Vergangenheit "später nie beschönigt", urteilte sein Nachlassverwalter Wendelin Schmidt-Dengler, späterer Professor an der Wiener Germanistik, etwa noch im Jahr 1976.

Wolfgang Fleischer, der als junger Mann dem Schriftsteller in dessen letzten Lebensjahren als Privatsekretär gedient hatte, verfasste im Gedenkjahr 1988 für die Wiener Wochenzeitung Falter gar einen wahren Hymnus auf die lebensgeschichtliche Auskunftsbereitschaft seines einstigen Arbeitgebers: Doderer habe ohne Ausflüchte und "mit präziser Erinnerung" von seiner Nazivergangenheit gesprochen.

Als Historiker, Schüler Heinrich von Srbiks, so lautete diese Erinnerung, sei Doderer in den frühen 1930er-Jahren der Idee einer Wiederauferstehung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation verfallen. Er habe sich von einem skrupellosen Regime "rekrutieren" lassen, um "an der großen historischen Rechtfertigung des Dritten Reichs zu basteln".

Als er dann 1936 aus beruflichen und finanziellen Erwägungen ausgerechnet ins bayrische Dachau zog, habe er seinen Irrtum jedoch bald erkennen müssen und sei "völlig entsetzt" nach Wien zurückgekehrt. "Hier warnte er jüdische Freunde und versuchte sie zum rechtzeitigen Verlassen Mitteleuropas zu bewegen. Die Trennung von den ehemaligen Nazi-Kameraden vollzog er sofort und vollständig."

Weltanschaulicher Abweg

Im Nachhinein muss sich Fleischer über die Arglosigkeit gewundert haben, mit der er den Bekenntnissen des Verstorbenen vertraut hatte. Einige Jahre später legte er eine vielsagend betitelte Biografie vor, Das verleugnete Leben (1996).

Es war Doderer, als er am 1. April 1933 in die NSDAP eintrat, keinesfalls nur um eine historische Wahnidee gegangen. Doderer, der eine zerrüttete Ehe mit einer Frau jüdischer Abstammung unterhielt, wurde auf seinem weltanschaulichen Abweg nicht zuletzt, oder vielleicht sogar vor allem, vom rabiaten Judenhass der Nationalsozialisten angetrieben.

Antisemitismus, zunächst latent, lässt sich schon in Doderers frühen Tagebüchern nachweisen. Seit 1930 verfolgte er ein einschlägiges literarisches Großprojekt, das bald den Titel Die Dämonen der Ostmark trug.

Er wird gerne als opportunistische Anbiederung gedeutet, ebenso wie die Auskünfte, die der Autor, etwa in einem Aufnahmegesuch an die Reichsschrifttumskammer, zum Inhalt erteilte. Das unedierte Manuskript ist das Fragment eines Tendenzromans, dessen Clou im Erweis "rassischer" Unverträglichkeit liegen sollte.

"Rede über die Juden"

Von der Forschung ignoriert wurde bislang eine vor unbekannter Runde gehaltene "Rede über die Juden" vom Juni 1936, wenige Wochen vor Doderers Abfahrt nach Dachau, gerade auf dem Höhepunkt seiner nazistischen Entflammung. Wir lernen den Dichter in diesem Text, der etwas verborgen im Nachlass überliefert ist, als beredten Ideologen, als subalternen politischen Agitator kennen, dessen Ausführungen ihn über den Verdacht des bloßen Opportunismus (oder gar eines akademischen Irrtums) wohl endgültig erheben.

Zum eigenen Seelenheil", so ein handschriftlicher lateinischer Vermerk, habe er seine Überlegungen erstmals gegenüber einer befreundeten Medizinstudentin geäußert und sie dann weiterentwickelt.

"Was ist das Wesentliche am jüdischen Gesicht?", fragt Doderer sein Publikum. Die Antwort liege in der "geheimnisvollen Lähmung" verborgen, die vom Judentum ausgehe "für alles, was unserer Art ist". Der Jude sei ein kühler Rationalist, stehe für Zweckorientierung, Vernunft, Unverbindlichkeit.

Der Arier dagegen sei ein romantischer Idealist, er stehe für den Lebenssinn schlechthin, den Schöpferwillen, das Schicksal, "die Ergriffenheit dem Leben gegenüber". Man sieht hier das, was der Autor auch in seinem Roman zeigen wollte: eine kategorische "rassische" Unverträglichkeit.

Uralte Vorwürfe

Bei Erscheinen Jesu Christi hätten die Juden es einst zuwege gebracht, "in Nichtergriffenheit" zu verharren, lautet Doderers Variation des Urmotivs des christlichen Antijudaismus, des Gottesmordes. Sinnbild dieser "Nichtergriffenheit" oder Empfindungslosigkeit aber sei die Frechheit, die als ein "Geheimzeichen" aus den Gesichtern aller Nachfahren der einstigen Gottesmörder spreche. So werden vom Redner zunächst uralte Vorwürfe und Stereotype erneuert und verschwistert.

Ausblick aus dem Arbeitszimmer im Riegelhof in Prein an der Rax, Doderers Sommerfrische-Domizil.
Foto: z.V.g. Nadja Meister

Doch es wird bunter: In der europäischen Geschichte komme dem Juden immer wieder die Rolle des Igels im Märchen vom Hasen und dem Igel zu, die Rolle eines gewitzten, aber verschlagenen, betrügerischen Gegners also (ein Vergleich, der ein Gefühl von Unterlegenheit schlecht verbergen kann).

Im 20. Jahrhundert hätten der Erste Weltkrieg, das Massenzeitalter und die Rationalität der Technik zu einem wahren "Hexensabbat der Nichtergriffenheit" und der Zweckgerichtetheit, ja in eine Welt geführt, zu deren "angemessenem Führer" der Jude geradezu bestimmt sei.

Dieser herabgekommenen, aus den Fugen geratenen Welt, die freilich den Igel "in irgendeiner Form stets an ihrem Wege sitzen finden" wird, "und hätte man gleich den letzten Rassejuden aus der Welt geschafft" (!), stünden die Nationalsozialisten als ein "Häuflein Ergriffener" heldenhaft gegenüber.

Was will er damit sagen?

Das sind deutliche, ja verräterische Worte. Den Holocaust dürfte sich Doderer kaum herbeigesehnt haben, aber zu der abstrakten Fantasie einer irgendwie verbrecherischen Entledigung war er in seiner schwächsten Stunde offenbar fähig. Dass er sie, scheint es, für vergeblich hielt, lindert die Sache kaum.

Und es kommt noch bunter: "Wie wird man Jude?" Man werde es, wenn man sich zur Ergriffenheit als unfähig erweise: "Wer nämlich, welcher Schicksalsgemeinschaft immer angehörend, in deren entscheidendem Stadium den profunden Stoß nicht spürt, (...) ein solcher ist (...) seiner Schicksalsgemeinschaft gegenüber – Jude. Oder er wäre zumindest zum Juden zu ernennen, auch wenn er keinen Tropfen semitischen Blutes hätte."

Was er damit sagen will? Die deutsche Schicksalsgemeinschaft ist in den Augen des Autors soeben in ihr entscheidendes Stadium eingetreten (wie einst die Judenheit beim Erscheinen Jesu), und wer gegenüber dem Wunder, das sich da gerade zeige, in "Nichtergriffenheit" verharre (also sich der nationalsozialistischen Idee und der Judenhetze nicht ergibt), wäre, wohl gleichsam als Verräter, den Juden gleichzustellen.

Ultimative politische Verblendung

Hier werden – Ausdruck ultimativer politischer Verblendung – Unverblendete zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Hier wird Hitler mit dem Messias verglichen. Hier wird zur nationalsozialistischen Machtergreifung ein verherrlichendes Fazit gezogen: "Das Folgende und Bekannte bleibt schlechthin wunderbar. Mehr ist darüber ehrlicherweise nicht zu sagen." Hier wird als Pointe des Ganzen euphorisch den Nürnberger Rassengesetzen applaudiert: Eine Judenfrage gebe es heute im Deutschen Reich nicht mehr. Man habe das Judentum dazu gezwungen, "sich als solches zu deklarieren".

Erst in Dachau dürfte, in der Tat, Doderers Begeisterung für den Nationalsozialismus getrübt worden sein. Die Enttäuschung bricht sich allerdings nur langsam Bahn. Ein klares Zeichen für eine Abkehr, wie der Autor es später gern in Anspruch nahm, wäre am ehesten in seiner 1940 erfolgten Konversion zum Katholizismus zu erkennen.

Die nach 1945, sei es von Doderer selbst oder anderen, gestreuten Gerüchte, er sei damals aus der NSDAP ausgetreten oder er habe sein Parteibuch verbrannt, erweisen sich ebenso als schöne Märchen wie der angebliche Bruch mit den Nazi-Freunden.

Es dauert bis 1952, dass Doderer ins Tagebuch notiert: Ein "Brennstoff unter dem Kessel des Selbstwertes" sei der Antisemitismus. "Abwertungen können im Menschen lange verkapselt sein oder latent: er wird sie hervorholen, wenn er ihrer bedarf, in irgendeinem Konkurrenz-Kampfe."

Er selbst habe als junger Mann, "im beginnenden Kampf der Geschlechter", seine Unterlegenheit auf diesem Gebiet in eine "rassische" Überlegenheit zu konvertieren versucht: "ein Vorgang von Persons-Verlust". Darin immerhin steckt einige Selbsterkenntnis. (Stefan Winterstein, ALBUM, 29.5.2021)