Aufgabe der Prozessbegleiter*innen ist es, Betroffene auf diese emotionale Belastung vorzubereiten.

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Zusätzliche 24,6 Millionen Euro investiert die Regierung infolge der jüngsten Femizidserie in den Ausbau des Gewaltschutzes – Teil des umfangreichen Maßnahmenpakets ist nicht nur die Prävention, sondern auch der Opferschutz. So werden Mittel in die "Stärkung der juristischen und psychosozialen Prozessbegleitung" fließen, Grund dafür sei die "jährlich steigende Inanspruchnahme", heißt es aus dem Justizministerium.

Mit der psychosozialen und juristischen Prozessbegleitung hat Österreich im Opferschutz ein internationales Vorzeigeprojekt geschaffen. 2008 wurde das Recht auf kostenlose Prozessbegleitung in der Strafprozessordnung verankert, Opfer von sexualisierter, häuslicher und situativer Gewalt – und ihre Hinterbliebenen – können sie sowohl in Straf- als auch Zivilverfahren in Anspruch nehmen.

Unterstützung finden Betroffene bei all jenen spezialisierten Opferschutzeinrichtungen, die einen Vertrag mit dem Justizministerium geschlossen haben. Deren Mitarbeiter*innen prüfen und entscheiden im Einzelfall auch darüber, ob eine psychosoziale und/oder juristische Prozessbegleitung nötig ist. Überwiegend sind es Einrichtungen, die sich auf Frauen als Betroffene von Männergewalt spezialisiert haben. So wurde zwischen 2011 und 2018 die Prozessbegleitung durchschnittlich von über 80 Prozent Frauen in Anspruch genommen, wie ein erster Tätigkeitsbericht des Justizministeriums zeigt.

Schockerlebnis

Es sind Frauen wie jene, die sich an die Frauenberatung Notruf bei sexueller Gewalt in Wien wenden. "Sexuelle Gewalt zu erleben ist unglaublich belastend. Nicht alle Betroffene sind schwer traumatisiert, aber das Erlebte hat Auswirkungen auf das Selbstbewusstsein, auf den Körper, auf soziale Beziehungen", erzählt Ursula Kussyk im STANDARD-Interview.

Kussyk und ihre Kolleginnen bieten persönliche Beratung an, die bis zu einem Jahr dauern kann, gemeinsam wird nach Wegen gesucht, mit dem Erlebten umzugehen, den Alltag trotz allem zu bewältigen. "Allein das ist schon eine große Herausforderung", sagt die diplomierte Sozialarbeiterin. Entscheiden sich Opfer sexueller Gewalt dafür, Anzeige zu erstatten, komme eine zusätzliche Belastung auf sie zu. Wie Polizeiarbeit und Strafprozesse ablaufen, davon hätten nur wenige eine realistische Vorstellung. "Und das ist dann ein Schock für viele", sagt Kussyk.

Aufgabe der Prozessbegleiter*innen ist es, Betroffene auf diese emotionale Belastung vorzubereiten. Sie informieren über die Konsequenzen einer Anzeige, begleiten ihre Klient*innen auf Wunsch zu Einvernahmen, besprechen Erlebtes. Dabei hänge vieles auch von den handelnden Personen ab, sagt Kussyk. Denn während viele Polizeibeamt*innen rücksichtsvoll und einfühlsam agieren würden, komme es noch immer vor, dass Opfer sexueller Gewalt mit Vorwürfen konfrontiert werden: Warum haben Sie sich nicht gewehrt, warum nicht nach ihm getreten?

Auffangnetz

"In solchen schwierigen Zeiten ist es wichtig, dass Betroffene nicht allein gelassen werden, wir versuchen sie aufzufangen", sagt Ina Mastnak, Geschäftsführerin der Beratungsstelle Tara in Graz. Neben der psychosozialen Prozessbegleitung, die etwa von Sozialarbeiter*innen oder Psycholog*innen durchgeführt wird, sichert die juristische Prozessbegleitung eine kostenlose Beratung und Vertretung durch eine*n Rechtanwält*in. Sie wird insbesondere dann gewährt, "wenn besondere Umstände befürchten lassen, dass die Rechte des Opfers im Verfahren nicht ausreichend respektiert werden", ist im Gesetzestext zu lesen. Rechtsanwält*innen können dann etwa Schmerzensgeld für die Betroffene einfordern.

Sexualisierte Gewalt wird in Österreich nicht nur kaum angezeigt, auch die Verurteilungsquote ist anhaltend niedrig [BT1] . Für Betroffene, die stark auf eine Verurteilung des Beschuldigten hoffen, sei es oft ungemein schwierig, mit einem Freispruch umzugehen, erzählt Mastnak. "Wir versuchen dann, die Entscheidung in aller Ruhe zu erklären, im Gespräch psychische Unterstützung anzubieten."

Obwohl bestimmte Opfergruppen das Recht auf eine Prozessbegleitung haben, finden viele erst gar nicht den Weg in eine Opferschutzeinrichtung. Insgesamt 8.331 Personen wurden 2018 prozessbegleitet – Tendenz steigend. Über die Rechte eines Opfers klärt bereits die Polizei im Rahmen einer Anzeige auf, doch viele seien in dieser Situation wenig aufnahmefähig, sagt Ursula Kussyk. Immer wieder würden sich Betroffene sehr spät an den Notruf wenden, die per Zufall von der Möglichkeit der Prozessbegleitung erfahren hätten.

Mehr Mittel, mehr Aufmerksamkeit

Justizministerin Alma Zadić möchte die Prozessbegleitung deshalb einer breiten Bevölkerung bekanntmachen, eine Infokampagne sei bereits in Planung. Kussyk und Mastnak sehen aber auch anderenorts Verbesserungsbedarf. So können Beratungsstellen eine Anzeigenberatung mittlerweile nicht mehr als Teil der Prozessbegleitung mit dem Justizministerium abrechnen. "Die ist für mich aber ein logischer Teil der Prozessbegleitung", sagt Opferschutzexpertin Mastnak.

Betroffene klären dabei gemeinsam mit Anwält*innen, ob eine Anzeige überhaupt Sinn macht: Existieren Beweismittel, ist das Delikt vielleicht schon verjährt? Auch die Kosten rund um die Information über einen Haftantritt müssen die Beratungsstellen selbst stemmen. Doch für die Opfer sei es sehr wichtig, zu erfahren, ob ein verurteilter Täter seine Haft angetreten hat – die aus verschiedenen Gründen aufgeschoben werden kann. Auch dabei fallen Anwaltskosten an. "Und natürlich wäre es schön, wenn der Stundensatz für Prozessbegleiter*innen nach über zehn Jahren endlich wieder angehoben werden würde", sagt Mastnak.

Eine breite Bewerbung der Prozessbegleitung fordert auch Barbara Neudecker ein, die die Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche leitet. Durchschnittlich 22 Prozent der begleiteten Personen waren in den vergangenen Jahren minderjährig, in rund 63 Prozent der Strafverfahren handelte es sich um Sexualdelikte. "Kinder entscheiden in der Regel nicht selbst über eine Anzeige, sie und ihr Umfeld brauchen spezielle Unterstützung von ausgebildeten Expert*innen", sagt Neudecker. Dass künftig auch Einrichtungen, die nicht auf Kinder spezialisiert sind, Prozessbegleitung für sie anbieten können, sieht Neudecker sehr kritisch – doch für eine Überarbeitung des entsprechenden Entwurfs gebe es bereits positive Signale aus dem Ministerium.

Obwohl Frauen unter den prozessbegleiteten Fällen die Mehrheit stellen, ist der Anteil der Männer zumindest moderat gestiegen. Als möglicher Grund dafür wird im Tätigkeitsbericht des Justizministeriums öffentlich gemachte Gewalt wie in Kirche und Kinderheimen genannt. Männer könnten sich so vermehrt zu ihrer Opferstellung bekennen. Gewaltschutz – er beginnt nicht zuletzt mit Enttabuisierung. (Brigitte Theißl, 30.5.2021)