"Der Ort ist besonders, weil hier Leute raufkommen, sich zu einem 'wildfremden' Einsiedler hersetzen und die intimsten oder persönlichsten Sachen erzählen können", sagt Matthias Gschwandtner über die Einsiedelei in Saalfelden.

Foto: Birgit Probst

Matthias Gschwandtner ist vor Pfingsten erneut in die Saalfeldener Klause, eine der letzten bewohnten Einsiedeleien Europas, gezogen. Im Vorjahr hatte ihn die Pfarre Saalfelden als neuen Einsiedler auserkoren. Das war auch für Gschwandtner eine Überraschung, denn er ist der erste evangelische Eremit in Saalfelden. Als Einsiedler ist der 64-Jährige aus Bad Ischl sowohl Mesner, Handwerker als auch Seelsorger. DER STANDARD stieg an einem verregneten Tag zum 1.001 Meter hohen Palfen auf und traf den Eremiten in seiner Klause zum Gespräch.

STANDARD: Warum haben Sie sich als Einsiedler von Saalfelden beworben?

Gschwandtner: Es gab viele Gründe. Der Ort an sich ist ein Wahnsinn in seiner Vielfalt und Ambivalenz. Mir war wichtig, einmal ein klösterliches Leben auf Basisversion auszuprobieren. Dass man das Wasser selbst holen muss, alles selbst kochen, alles sehr einfach, ohne Fernseher. Ich bin geistlich etwas träge geworden, wollte das wieder vertiefen und reflektierter werden. Hier oben hat man eine andere Gottnähe – es ist geistlich, spirituell und mystisch sehr dicht. Ich bin mein eigener Bruder, mein eigener Abt und habe große Freiheit. Mein Auftrag ist, nur drei Mal die Glocke zu läuten und auf die Leute, die kommen, zuzugehen.

"In Städten, unter ganz vielen Menschen, kann man am einsamsten sein", sagt der Eremit von Saalfelden.
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STANDARD: Ein Einsiedlerleben stellt man sich abgeschieden und einsam vor. Ist es das?

Gschwandtner: Heute bei schlechtem Wetter seid ihr erst die Zweiten, die gekommen sind. Die letzten drei Tage war aber voller Betrieb mit dutzenden Leuten und vielen Begegnungen. Viele kommen auch mit fixen Klischees: Bei einer Einsiedelei, da muss einer sitzen mit Rauschebart, Pfeife und Kutte. Es ist mir ein Anliegen, fixe Denkmuster aufzulösen. In der Früh und abends sind Zeiten, wo du Zeit für dich hast und wo du Einsiedler bist. Man hat ja auch nicht wenig zu tun im Haushalt. Es ist aufwendig in seiner Schlichtheit.

STANDARD: Wie sieht Ihr Tagesablauf aus?

Gschwandtner: Ich stehe um sechs Uhr auf, heize ein und mache mir einen grünen Tee oder Kaffee. Um sieben Uhr ist Läuten und Gebetszeit. Dann lese ich bei schönem Wetter auf der Hausbank, schreibe Tagebuch oder bereite Gottesdienste vor. Ich sitze viel draußen und genieße die Aussicht auf das Kitzsteinhorn. Manchmal muss ich Holz hacken oder habe etwas zu reparieren. Um elf koche ich mir mein Essen. Ab Mittag nach der Gebetszeit hab ich dann oft durchgängig Gespräche mit Leuten. Viele sind auf der Suche, haben Zweifel oder sind weit weg vom christlichen Glauben. Abends, nach der dritten Gebetszeit, schaue ich, dass im Haus alles passt.

STANDARD: Sie sind hier auch als Seelsorger tätig. Mit welchen Anliegen und Fragen kommen die Menschen zu Ihnen?

Gschwandtner: Der Ort ist insofern besonders, weil hier Leute raufkommen, sich zu einem "wildfremden" Einsiedler hersetzen und die intimsten oder persönlichsten Sachen erzählen können. Sie reden über Gott und die Welt, wirtschaftliche Dinge oder spirituelle, persönliche Probleme. Der Ort hat so eine Stimmung, das hab ich vorher noch nie wo gesehen. Eine junge Frau ist gekommen, hat eine Dose Kekse hergestellt und mir eine dramatische Frage gestellt. Dieses Sich-öffnen-Können ist hier etwas ganz Besonderes. Das fasziniert mich. Beim Psychologen braucht es oft drei Sitzungen, bis überhaupt jemand zu reden beginnt.

STANDARD: Gibt es eine Botschaft, die Sie den Menschen mitgeben wollen?

Gschwandtner: Wir müssen unseren Lebensstil ändern. Wir müssen aufhören, uns von den Medien treiben zu lassen, uns wieder mehr zurücknehmen, uns selbst spüren. Die Menschen sind in einer Reisehektik, die kennen sich selbst gar nicht. Reiseziel eins abgehakt, fünf Fotos, sofort posten an alle Follower und das nächstes Ziel. Sie definieren sich über Reiseerlebnisse, Bespaßungen und Ablenkungen. Auch viele ältere Menschen sind in diesem Dauerbespaßungsmodus drinnen. Was mir bei vielen fehlt, ist die Altersweisheit. Total gehetzt und getrieben lassen sie sich vom totalen Markt und Konsumtrieb mitreißen. Blaise Pascal hat einmal gesagt: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Das möchte ich den Menschen mitgeben, weil ich ja auch als Einsiedler das einfache Leben vorlebe. Leitln, setzts euch einmal wo hin und gebts a Ruh

Matthias Gschwandtner ist als Einsiedler nicht einsam, aber sehr gern allein.
Foto: Birgit Probst

STANDARD: Jetzt hatten wir zwangsweise eine Zeit der Stille. Im Corona-Lockdown kam es manchen so vor, als wären sie Einsiedler. War die Pause einmal nötig?

Gschwandtner: Die Pause war sehr nötig, aber warum sie passiert ist, ist natürlich schlimm. Viele hat es jedoch zum Nachdenken angeregt, und es war vielleicht heilsam. Ein gewisses Einsiedlerdasein schadet hin und wieder nicht. Sich auseinanderzusetzen mit sich selbst, das können die wenigsten. An diesem Ort ist es anders: Einige sitzen hier einfach drei, vier Stunden draußen – einfach um zu sein. Du brauchst nicht konsumieren, performen, nicht irgendwas tun. Das ist eine gewaltige Stimmung. Viele sind durch Corona nicht so weit gefahren und haben einfach Ziele wie hier besucht

STANDARD: Was macht die Isolation mit den Menschen?

Gschwandtner: Eine Unterscheidung ist ganz essenziell: Ist man alleine oder einsam? Es gibt ganz viele, die einsam sind. Das ist schlimm und sehr belastend, wenn sich keiner für einen interessiert. In den Städten, unter ganz vielen Leuten, kann man am einsamsten sein. Oder man sucht das Alleinsein. Ich bin zum Beispiel gerne allein. Das bewusste Alleinsein ist sehr hilfreich und wichtig.

STANDARD: Sie sind der erste evangelische Eremit in Saalfelden. Spielt die Konfession eine Rolle für das Einsiedler-Dasein? Machen sie etwas anders?

Gschwandtner: Grundsätzlich sollte es keinen Unterschied geben. Dass man gewisse Dinge anders macht, liegt in der Persönlichkeit. Eines gebe ich zu, wir in unserer evangelischen Freiheit, wir tun halt gerne so, wie wir uns das vorstellen. Ich habe etwa die Gebtszeit geöffnet und alle mit eingeladen teilzunehmen. Aber im Alltag spielt die Konfession überhaupt keine Rolle.

STANDARD: Sie sind ja verheiratet. Was sagt ihre Frau dazu?

Gschwandtner: Das möchte ich nicht im STANDARD lesen. (lacht) Aber wir haben uns arrangiert. Meine Frau weiß natürlich, wie sehr mir das ein Anliegen ist und trägt es halt mit. (Stefanie Ruep, 1.6.2021)