Der Grafikstil in Pastell erinnert an das Werk des großen Comic-Kultzeichners Jean Giraud alias Moebius, wie es ihn auch beim in Entwicklung stehenden "Sable" zu sehen geben wird.

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Wer ein Rollenspiel spielt, will eine epische Geschichte erleben. Wer Unexplored 2: The Wayfarer’s Legacy spielt, will seine eigene epische Geschichte erleben – eine, die sonst niemand so erlebt hat.

Einzigartige Erlebnisse, eine Story, die von meinen eigenen Entscheidungen und Erlebnissen beeinflusst ist, mein eigenes Abenteuer: Das ist seit jeher das Versprechen der Rogue-like-Rollenspiele. Obacht: Diesmal sind die Originale gemeint, nicht die späteren Genreableger, die Auskenner als Rogue-like-likes oder Rogue-lites bezeichnen. Hades, Dead Cells und The Binding of Isaac sind streng genommen nur die Light-Varianten der ebenso komplexen wie grafisch schlichten Rollenspiele im Gefolge von Rogue aus dem Jahr 1980.

Unexplored 2 hat mit den klassischen Urahnen mehr gemeinsam als mit den genannten Action-Kultspielen, auch wenn es sich ebenso wie diese in Echtzeit und nicht rundenbasiert wie die Originale spielt. Wenn man will, könnte man es als gelungene Mischung aus dem Gameplay früher 2D-Zeldas und klassischem Rogue-like beschreiben. Doch eins nach dem anderen.

Der "Herr der Ringe" zum Selberspielen

Die Ausgangssituation klingt seltsam vertraut: In Unexplored 2 soll ein magischer Gegenstand zerstört werden, damit er nicht dem Bösen in die Hände fällt. Dafür muss unser Held eine lange, gefährliche Reise antreten – mitten ins Herz der Dunkelheit. Auch wenn wir statt des "Einen Rings" hier einen mächtigen Zauberstab tragen und auch keinen treuen Begleiter wie den Hobbit Sam an unserer Seite haben, ist die klassische Inspiration eindeutig. Im Unterschied zum "Herrn der Ringe" ist dieses Abenteuer aber eine Aufgabe für Generationen von Abenteurern, denn bis das Ziel erreicht ist, segnen ziemlich viele Helden das Zeitliche.

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Stirbt ein Wanderer auf dem langen Weg, vergehen im Spiel einige Jahre, bevor ein anderer seine Nachfolge antritt – eine clevere Variation der Permadeath-Tradition des Genres. Manches bleibt gleich in der Welt, anderes ändert sich grundlegend; der nächste Run ist somit stets spürbar unterschiedlich. Das Böse breitet sich in der Zwischenzeit allerdings aus. Zum Glück bleiben mächtige Gegenstände trotz Heldentods erhalten; so startet man wenigstens ein bisschen stärker in den nächsten Versuch.

Der Ausgangspunkt des Abenteuers ist jedes Mal derselbe, auf der großen Weltkarte, die ganz zu Beginn einer Kampagne, nicht aber nach dem Tod grundlegend neu zusammengewürfelt wird, werden die in der Nähe erreichbaren Ziele angezeigt. Ist eine Destination gewählt, wackelt die in dieser Ansicht als Brettspielmännchen abstrahierte Spielfigur selbstständig dorthin. Wenn wir ankommen oder aber eine unvorhergesehene Begegnung die Reise unterbricht, wird sozusagen näher herangezoomt und die abwechslungsreiche Umgebung näher untersucht.

Zufallsgenerierung de luxe

Der Clou der Wälder, Wüsten, Kerker und Höhlen, die man dort durchquert, liegt in ihrer Zufallsgenerierung, und in dieser Hinsicht darf sich das niederländische Studio Ludomotion rühmen, in Sachen Komplexität und Innovation ganz vorn an der Weltspitze mitzuspielen. Die offenen Umgebungen, besonders aber die atmosphärischen Dungeons und Ruinen bieten dank Variation nicht nur von optischen Elementen, sondern vor allem von Rätsel- und Erzählversatzstücken schlicht die beeindruckendsten prozedural generierten Schauplätze, die man je gesehen hat.

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Unexplored 2 bietet weit mehr als nur leicht variierte Level-Grundrisse und neu verteilten Loot: Trickreiche Schalterrätsel, versteckte Räume und vor allem die Kombination von auffindbaren Gegenständen, Fallen und Gegnern fügen sich derart elegant zu sinnvollen, immer wieder überraschend cleveren Situationen zusammen, dass man kaum glauben mag, dass hier kein menschlicher Leveldesigner oder Spielleiter wie in klassischen Pen&Paper-Rollenspielrunden am Werk gewesen sein soll.

Abgesehen vom eher taktischen Kämpfen und Erforschen gibt es immer wieder an speziellen Punkten die Möglichkeit für Entscheidungen und Skillproben: beim Entziffern von geheimnisvollen Inschriften etwa, aber auch beim Klettern schwieriger Klippen oder beim Gespräch mit misstrauischen Fremden. Ein simples, aber spannendes System von zufällig gezogenen Spielchips ersetzt hier das schnöde Würfeln. Wer mit dem gezogenen Ergebnis unzufrieden ist, darf sich einen anderen Chip kaufen und auf mehr Glück hoffen. Die dafür nötige rare Währung lässt sich durch Erforschen der Umgebung finden.

Was ist gelungen?

Wie der Vorgänger, der grafisch weniger poliert nach wie vor als Geheimtipp bei Genrefreunden gilt, bietet auch Unexplored 2 eine durch seine nach Entwicklerdefinition "radikale" Inhaltsgenerierung schier endloses Rollenspiel. Durch das Zusammenspiel seiner intelligent verzahnten prozeduralen Versatzstücke und Systeme ist immer wieder für kleine und große, einzigartige Erlebnisse gesorgt. Besonders innovativ ist hier auch die langsame Veränderung der ganzen Spielwelt im Lauf der vergehenden Jahre gelungen.

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Die Fülle an Inhalten und abwechslungsreichen Situationen lässt den Traum von der "emergent narrative", also der Geschichte, die sich quasi von selbst ganz ohne Autor aus den Systemen ergibt, ein Stück weit wahr werden – etwas, das gute klassische Rogue-likes seit jeher leisten.

Im Unterschied zu Letzteren bietet Unexplored 2 aber auch etwas fürs Auge und die Ohren: Der Grafikstil in Pastell erinnert an das Werk des großen Comic-Kultzeichners Jean Giraud alias Moebius, wie es ihn auch beim in Entwicklung stehenden Sable zu sehen geben wird. Auch die beeindruckend epische Orchestermusik und das tolle Sound-Ambiente machen etwas her.

Was ist weniger gelungen – und noch nicht fertig?

Genre-Fans wissen es, Neulinge seien gewarnt: Als Erbe klassischer Rogue-likes ist Unexplored 2 sehr schwer geraten. Der Tod kommt schnell – vor allem, wenn man nicht aufpasst und immer wieder auch den Rückzug antritt. Die Kampf-Spielmechanik ist simpel und fordert eher Taktik und Geduld als Skill, die KI der Gegner lässt noch durchwegs zu wünschen übrig.

Vor allem muss Interessierten klar sein, dass hier noch viel zu tun ist: Der Zustand im frühen Early Access erlaubt zwar schon stundenlanges Spiel und auch den Abschluss des Abenteuers, doch immer wieder stößt man auch nach kurzer Spielzeit auf Platzhaltertexte, verbuggte Menüs oder in der Umgebung festhängende Monster. Wer sich schon jetzt auf Unexplored 2 einlässt, darf ihm beim Entstehen zusehen – so manche Spielsysteme sollen noch nachgereicht werden, bis das Spiel frühestens in einem Jahr fertig ist. Weil die Entwickler auch beim Vorgänger Erfahrung mit Early Access gesammelt haben, braucht man sich um die Fertigstellung dieses Spiels wenig Sorgen machen.

Fazit

Was für ein Spiel, was für eine Ambition: Was Unexplored 2: The Wayfarer’s Legacy schon jetzt hochspannend macht, ist das, was unter der Haube passiert. Die prozedurale Magie, die hier am Schaffen ist, erschließt sich mit jedem neuen Versuch mehr, die Abenteuer, die man hier erleben darf, erinnern weitaus mehr an das "klassische" Pen&Paper-Rollenspielerlebnis als an die meisten anderen Computerrollenspiele.

Wer keine Scheu vor Early-Access-Baustellen hat und einen Blick auf die Zukunft der algorithmengestützen Content-Generierung im Genre werfen will, muss zugreifen. Für Gelegenheitsspieler und Menschen mit niedriger Frustrationstoleranz ist dieses Abenteuer im Moment zumindest aber noch nichts. Unexplored 2 ist dennoch schon jetzt ein faszinierendes Unikat mit revolutionärem Potenzial. (Rainer Sigl, 28.5.2021)

Unexplored 2: The Wayfarer’s Legacy, erschienen im Early Access für Windows (Epic Games Store) um 19,99 Euro.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Das Testmuster im Early Access wurde vom Publisher bereitgestellt.