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So regiert Viktor Orbán gern: vom Pult herab, umringt von Getreuen, die seinen Willen geschehen lassen. "Ungarn first" lautet das Motto.

Foto: MTI via AP / Szilard Koszticsak

Alle unabhängigen Forschungsberichte bestätigen die Feststellung der US-Menschenrechtsorganisation Freedom House, wonach Ungarn ein nur "zum Teil freier Staat" sei, also weder eine liberale Demokratie noch eine offene Diktatur.

Der Architekt dieses Systems, das der Politikwissenschafter András Körösényi "Führerdemokratie" nennt, ist seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten am 29. Mai 2010 der 58-jährige Viktor Orbán, seit 1993 Vorsitzender der Regierungspartei Fidesz. Der Soziologe Bálint Magyar bezeichnet das Ungarn von heute bereits als einen "von Orbáns politisch-ökonomischem Clan regierten postkommunistischen Mafiastaat".

Orbán war schon zwischen 1998 und 2002 an der Spitze einer Koalition Ministerpräsident, damals der Jüngste in Europa. Nach zwei Fidesz-Niederlagen 2002 und 2006 waren die sozialistisch-linksliberalen Koalitionsregierungen in acht Jahren oft in Skandale, Vetternwirtschaft und Korruption verwickelt.

Infolge des mehrheitsfördernden Effekts des Wahlsystems konnte Fidesz (mit seiner winzigen Satellitenpartei KDNP, christlich-demokratische Volkspartei) im April 2010 mit 53 Prozent der Stimmen eine Zweidrittelmehrheit gewinnen.

Glückliche Fügung

Das ehrgeizige Unterfangen, den Fidesz unwiderruflich zum einzigen regierenden Machtfaktor in Ungarn zu machen, wurde durch eine glückliche Fügung erleichtert. Die Amtszeit des vom Parlament gewählten Staatsoberhaupts, des angesehenen Völkerrechtlers László Sólyom endete nur zwei Monate nach der Wahl. Statt seiner Wiederwahl bestimmte Orbán den Fechtolympiasieger Pál Schmitt, ein ihm ergebenes Leichtgewicht, zum Kandidaten.

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Orbán pflegt eifrig Kontakte zu autokratisch regierenden Politikern wie Russlands Wladimir Putin ...
Foto: Reuters / Bernadett Szabo

Der ungarische Staatspräsident hat nur begrenzte Befugnisse, aber kann die Entscheidungsbildung des Parlaments aufhalten, indem er seine Unterschrift unter Gesetze verweigert und sie zur Überarbeitung an das Parlament zurückschickt. Er kann auch schon erlassene Gesetze durch das Verfassungsgericht überprüfen lassen. Das Parlament hat jedoch die Möglichkeit, einen Beharrungsbeschluss zu fassen.

Orbán musste diesen geradezu idealen Erfüllungsgehilfen nach anfänglichem Zögern im Frühjahr 2012 fallenlassen, nachdem enthüllt worden war, dass der Präsident seine Doktorarbeit fast gänzlich abgeschrieben und die Semmelweis-Universität Schmitt den Doktortitel aberkannt hatte. Orbán fand in dem Europa-Abgeordneten János Áder schnell einen gefügigen Nachfolger (2017 wiedergewählt), der selbst die umstrittensten und auch international kritisierten Gesetzesvorlagen und Verfassungsänderungen klaglos unter zeichnete.

Die Bestellung Áders spiegelt ein fast einzigartiges ungarisches Phänomen. Es dürfte in der Welt kein anderes nominell demokratisches Land geben, in dem ein kleiner Kreis von etwa zwanzig ehemaligen Studenten, die einander seit 30 Jahren kennen, so viele Schlüsselpositionen besetzt. Die drei höchsten Würdenträger – das Staatsoberhaupt, der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident- sind drei alte, enge Freunde: János Áder (seit 2012), Viktor Orbán und László Kövér (seit 2010).

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... Chinas Staatschef Xi Jinping ...
Foto: Getty Images / Reuters / Andrea Verdelli

Geschlossene Gesellschaft

Die Angehörigen des geschlossenen Kerns der Herrschaft im ungarischen Staat, heute meistens Endfünfziger, verdanken ihre Karrieren oft vor allem der unbedingten persönlichen Loyalität gegenüber der absoluten Führungsgestalt Viktor Orbán und nicht etwa ihren besonderen Fähigkeiten.

Ein solcher auch international berüchtigter "Weltstar" ist der Gasinstallateur Lőrinc Mészáros aus Felcsút, dem Heimatdorf Orbáns. Beide sind gemeinsam in die gleiche Volksschule gegangen und wurden dann durch ihre gemeinsame Leidenschaft für Fußball enge Freunde. Heute ist Mészáros mit einem Vermögen von einer Milliarden Euro und rund 200 Unternehmen einer der reichsten Ungarn.

Reporter unabhängiger Internetportale haben in den vergangenen Jahren in nicht dementierten Berichten die engen geschäftlichen Verbindungen zwischen dem Mészáros-Imperium und dem Vater des Ministerpräsidenten Győző Orbán und seinem Schwiegersohn István Tiborcz enthüllt. Dieser 34-jährige Geschäftsmann nimmt übrigens mit einem geschätzten Vermögen von 111 Millionen Euro bereits den 32. Platz auf der Liste der hundert reichsten Ungarn ein.

Systemwechsel

... oder auch dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Foto: EPA / Zsolt Szigetvary

Nach dem von ihm als "erfolgreiche Revolution an der Wahlurne" bezeichneten Sieg 2010 verkündete Viktor Orbán einen Systemwechsel und eine neue geschichtliche Epoche. Während des Wahlkampfs hatte er nicht ein einziges Wort über eine Verfassungsreform verloren.

Der Frontalangriff auf die alte Verfassung, das Verfassungsgericht und die unabhängige Justiz begann kaum einen Monat nach der Konstituierung des neuen Parlaments. Nach einer nur dreitägigen Debatte hat die Fidesz-Zweidrittelmehrheit beschlossen, die wichtigste Schutzklausel, wonach die Vorbereitung durch vier Fünftel der Abgeordneten gebilligt werden muss, abzuschaffen.

Im Jahr 2011 wurde eine neue Verfassung, das sogenannte "Grundgesetz von Ungarn", im Eiltempo in nur neun Tagen durch das Parlament gedrückt, ohne Input der Bevölkerung und ohne Referendum. Das neue Grundgesetz trat am 1. Jänner 2012 in Kraft. Das Hauptopfer der neuen Verfassung war die Judikative, allen voran das Verfassungsgericht, das seit 1990 ohne Rücksicht auf die jeweilige Regierung immer wieder unabhängige Entscheidungen fällte.

Zurechtstutzen des Rechtsstaats

Zuerst wurden das Auswahlverfahren geändert und die Zahl der Verfassungsrichter um fast ein Drittel auf 15 erhöht, um möglichst schnell ein regierungsnahes Übergewicht zu erreichen. Auf Anhieb konnte die Regierungspartei fünf neue Fidesz-nahe Verfassungsrichter ernennen. Die Amtszeit wurde von neun auf zwölf Jahre erhöht.

In den darauffolgenden Jahren rückten weitere Ex-Fidesz-Minister und -Abgeordnete in dieses Gremium auf. Um volle Handlungsfreiheit zu haben, entzog die Fidesz-Mehrheit dem Verfassungsgericht das Recht, neue Gesetze zu den Staatsfinanzen zu überprüfen. Eine Reihe vom Höchstgericht vorher abgelehnter Gesetze erhoben die Fidesz-Abgeordneten direkt in den Verfassungsrang.

Das Grundgesetz wurde bisher um 32 sogenannte Kardinalgesetze ergänzt, die nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament verändert werden können. So sichern die Kardinalgesetze den Verbleib von Funktionären, die von Fidesz ernannt worden waren, in Schlüsselpositionen – selbst wenn Fidesz bei einer künftigen Wahl nicht die Mehrheit gewänne.

In einem Interview mit der Kronen Zeitung hatte Orbán bereits im Sommer 2011 unbekümmert erzählt, er nutze die Zweidrittelmehrheit dazu, mittels Verfassungsgesetzen sogar den nächsten zehn Regierungen die Hände zu binden.

Zwangspensionierung aller Richter

Auch mit Ex-FPÖ-Chef und Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache verstand sich Orbán vor Ibiza blendend.
Foto: APA / AFP / Attila Kisbenedek

Um die Justiz unter Kontrolle zu bringen, beschloss die Fidesz-Mehrheit 2012 die Zwangspensionierung aller Richter, die das 62. Lebensjahr vollendet hatten. Diese ohne gesellschaftliche Debatte vollzogene Maßnahme betraf 274 Richter. Der Oberste Gerichtshof wurde formell abgeschafft und in "Kuria" umbenannt, um durch diese Neuregelung András Baka, den unabhängigen Vorsitzenden des Höchstgerichts, ablösen zu können.

Er wurde an der Spitze des neuen Gremiums per Parlamentsvotum durch einen Fidesz-freundlichen Richter ersetzt. Der seines Amts enthobene Höchstrichter berief gegen diesen Willkürakt, der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg gab ihm recht. Baka bekam zwar finanziellen Schadenersatz, die Maßnahme wurde jedoch nicht rückgängig gemacht.

Freundin der Familie

Zwei weitere, außerordentlich wichtige Positionen in der Justiz wurden mit zwei langjährigen Orbán-Vertrauten besetzt. Tünde Handó, eine Freundin der Familie Orbán seit Studentenzeiten, diente ein Jahrzehnt lang als Präsidentin des neu gegründeten "Obersten Landesgerichtsamts". Dieses erhielt weitgehende Kompetenzen bei der Ernennung von Richtern und bei der Zuweisung von Verfahren zu von ihr bestimmten Gerichten. Im Jänner 2010 wurde Handó für zwölf Jahre zum Mitglied des Verfassungsgerichts ernannt.

Die Schlüsselstellung des obersten Staatsanwalts besetzte in allen vier Orbán-Regierungen (bereits in der ersten von 1998 bis 2002) derselbe erprobte Günstling. Im Vorjahr wurde Péter Polt nach Ablauf seines Mandats per Fidesz-Mehrheit für weitere neun Jahre bestellt.

Nach Ablauf dieser Periode wird Polt diese außerordentlich wichtige Position über ein Vierteljahrhundert lang bekleidet haben. Kein Wunder, dass die wichtigsten von Olaf, der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde, eingeleiteten Untersuchungen im Sand verlaufen sind. Etwa auch jene gegen die Firmen des Orbán-Schwiegersohnes. Ungarn ist bisher der Europa-Staatsanwaltschaft, die 20 Mitgliedsstaaten 2017 gegründet hatten, nicht beigetreten.

Freie Wahlen, aber nicht fair

Dass das Orbán-Regime die letzten beiden laut OSZE-Bericht "freien, aber nicht fairen" Wahlen gewonnen hat und 2014 und 2018 mit 44 bzw. 49 Prozent jeweils zwei Drittel der Mandate erhielt, war zum Teil die Folge der umstrittenen mehrheitsfördernden Wahlrechtsreform von 2011.

Deren wesentliche Faktoren waren: die unkontrollierbare Briefwahl durch die in den Nachbarländern lebenden Ungarn (95 Prozent stimmten für Fidesz); die Neuverteilung von Wahlbezirken; das Reststimmenverfahren; die Aufstellung von Scheinkandidaten in den Einzelwahlkreisen; die Benachteiligung der im westlichen EU-Ausland arbeitenden ungarischen Staatsbürger (bereits rund 500.000), die nur bei den diplomatischen Vertretungen persönlich abstimmen dürfen; und das enorme Übergewicht der Regierung bei der Wahlwerbung.

Die US-amerikanische Verfassungsexpertin Kim Lane Scheppele von der Universität Princeton stellte in ihren Analysen "manipulierte Wahlgänge, organisiert durch eine verfassungsmäßige Diktatur", fest.

Besetzung der Kontrollinstitutionen

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Bis jetzt war die Opposition chancenlos. Der Budapester Oberbürgermeister Gergely Karácsony könnte Orbán erstmals gefährlich werden.
Foto: Reuters / Bernadett Szabo

Man darf auch die Besetzung der wichtigsten, nach der Wende errichteten Kontrollinstitutionen nicht vergessen. Zu diesen gehören das Amt zur Sicherung der freien Marktwirtschaft, die nationale Wahlkommission, der staatliche Rechnungshof, das Amt des Ombudsmanns. Statt als Kontrollorgane des Parlaments und der Regierung zu fungieren, sind diese Institutionen zu dienenden Organen der Regierungsexekutive geworden.

Die Regierung kontrolliert direkt und indirekt 80 Prozent der Medien und 90 Prozent der öffentlichen Außenwerbeflächen. Trotz internationaler Proteste, auch des EU-Parlaments, stimmte das Parlament schon 2011 für den Zusammenschluss aller staatlichen Fernseh- und Rundfunksender zu einem neuen, von Fidesz-Anhängern kontrollierten Konglomerat. Danach schuf die Regierung eine zentrale Medienbehörde, um die neue Struktur zu überwachen. Treue Fidesz-Funktionäre wurden als Leiter auf neun Jahre eingesetzt.

Keine unabhängigen Radiosender

Nach der gewonnenen Wahl 2018 "schenkten" alle Pro-Fidesz-Medieninhaber ihre Anteile einer neuen, von drei Orbán-Vertrauten geführten Körperschaft, der Central European Press and Media Foundation (KESMA). Auf nationaler Ebene gibt es nur noch einen völlig unabhängigen Fernsehkanal, der zu RTL gehört.

Seit dem Entzug der Lizenz des kleinen Klubrádió gibt es keinen unabhängigen Radiosender mehr. Auf dem World Press Freedom Index, von Reporter ohne Grenzen erstellt, fiel Ungarn vom 23. Platz im Jahr 2010 – als Fidesz an die Macht kam – auf den 92. Platz.

Der angesehene Ökonom und frühere Direktor des weltwirtschaftlichen Instituts der Akademie der Wissenschaften, András Inotai, hat in mehreren Studien bewiesen, dass Ungarn eine historisch einzigartige Modernisierungschance verspielt hat. Und das trotz der boomenden Weltwirtschaft vor der Pandemie und der pro Kopf umgerechnet höchsten EU-Förderungen (zwischen 2007 und 2020 42 Milliarden Euro).

In fast allen Bereichen – von der Konkurrenzfähigkeit bis zum BIP pro Kopf – hätten die meisten postkommunistischen Reformstaaten (ausgenommen Rumänien und Bulgarien) Ungarn mittlerweile überholt. Inotai weist auch auf den dramatischen Niedergang des Bildungs-und Gesundheitswesens hin und spricht von einer "historischen Schuld" des Orbán- Regimes.

Vergiftete Volksseele

Seit 2014 versucht die Regierung auch die Wissenschaft und Kultur im Sinne ihrer Ideologie unter Kontrolle zu bringen. Die Elemente dieser Ideologie sind laut der vor zwei Jahren verstorbenen, von Fidesz angefeindeten Philosophin Ágnes Heller "ein rassistischer Nationalismus, Feindbildproduktion, die Erzeugung eines Bedrohungsgefühls, der permanente Kampf gegen etwas oder jemanden, der Ungarn vernichten wolle. Wobei Orbán der Beschützer und Retter ist. Die Seele des Volkes wird mit Hass und Furcht vergiftet."

In diesen Rahmen fügt sich die international scharf verurteilte Vertreibung der berühmten Central European University (CEU) ein, die nach einer beispiellosen Kampagne mit antisemitischen Untertönen gegen den in Budapest geborenen US-amerikanischen Gründer, Philantropen und Investor George Soros und seine Open Society Foundations stattfand. Orbán beschuldigte seinen ehemaligen Gönner, gemeinsam mit den "Brüsseler Bürokraten" zu planen, "Ungarn und Europa mit Massen muslimischer Flüchtlinge zu überfluten".

Seit Orbán im Sommer 2014 das "Scheitern der liberalen Demokratie" verkündet hatte und Russland, China und die Türkei lobpries, pflegt kein anderer Staats- oder Regierungschef so intensive und so freundliche persönliche Beziehungen zu autoritären Populisten und Diktatoren, von Wladimir Putin bis zu Recep Tayyip Erdoğan, von Ilham Alijew bis zu Xi Jinping.

Was die Forderungen der EU und der EVP betrifft, die seit fast einem Jahrzehnt an die Fidesz-Regierung gerichtet werden, hat Orbán wiederholt gezeigt, dass seine Versprechen das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind.

Der ungarische Historiker Krisztián Ungváry meint: "Sollte das Regime eine Wahl verlieren, würde eine beträchtliche Zahl der Schlüsselfiguren hinter Gittern landen." Die im April 2022 fälligen Parlamentswahlen werden zeigen, ob seine düstere Voraussage stimmt, dass "das Regime durch eine Wahl nicht besiegt werden kann und sicherlich nicht bei einer, die Fidesz organisiert hat". (Paul Lendvai, 29.5.2021)