Vor drei Jahren hat die deutsche Regierung bei einer Gedenkveranstaltung sterbliche Überreste von Opfern des Genozids zurückgegeben.

Foto: EPA/Hayoung Jeon

Die Gewissen fangen an zu beißen. Am Donnerstag entschuldigte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron während eines Besuchs in Ruanda für die Mitverantwortung seines Landes am Völkermord in dem zentralafrikanischen Staat. Knapp einen Tag später schlug sich Bundesaußenminister Heiko Maas für den deutschen Genozid an den namibischen Völkern der Herero und Nama vor die Brust.

Die beiden Abbitten mögen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben: Schließlich ereignete sich der französische Fehltritt vor 27, der deutsche vor 117 Jahren. Trotzdem kündigt die europäische Reuewelle eine neue Ära an: das Ende des arroganten Gedächtnisverlusts der ehemaligen Kolonialnationen.

Das deutsche "Mea culpa" bahnte sich schon seit einiger Zeit an: Hundert Jahre nach dem "Verlust" der Ex-Kolonie im Südwesten Afrikas hatte Berlin 2015 erstmals eingeräumt, dass es sich bei dem Feldzug der "Schutztruppen" in "Deutsch Südwest" um einen Völkermord gehandelt habe. Das war keineswegs unumstritten: Als General Lother von Trotta mit seinem "Vernichtungsbefehl" am 2. Oktober 1904 die Ausrottung der Herero ankündigte, habe er damit nur den starken Mann gegenüber Berlin und der afrikanischen Bevölkerung markiert, wird eingewandt: Seine kümmerlichen Truppen seien gar nicht in der Lage gewesen, ein Volk zu vernichten.

Die Frage mag für Völkerrechtshistoriker interessant sein. Angesichts der Ermordung fast der Hälfte aller Herero – unter anderem in eigens eingerichteten Konzentrationslagern – fällt es schwer, von etwas anderem als einem Völkermord zu reden.

Bundesregierung drückte sich um Anerkennung

Jahrzehntelang hatte sich die Bundesregierung um die Anerkennung des Genozids gedrückt – weniger aus moralischen als aus finanziellen Gründen. Warum jüdischen Überlebenden des Holocausts Entschädigung zukam, während afrikanischen Hinterbliebenen eines Völkermords diese vorenthalten blieb, war kaum zu rechtfertigen. Dabei nutzte Berlin auch einen zynischen Umstand aus: Weil die Herero und Nama nicht zuletzt wegen des Genozids im 1990 demokratisch gewordenen Namibia weder in der Mehrheit noch an der Regierung waren, blieb Berlin ein Türchen offen.

Die deutsche Diplomatie verwies darauf, dass dem jungen afrikanischen Staat mit Entwicklungshilfe mächtig unter die Arme gegriffen werde – und die von Ovambo dominierte Regierungspartei Swapo bestärkte sie darin. Sie hatte kein Interesse an einer direkten Entschädigung der Herero und Nama: Schließlich standen diese der Swapo-Regierung eher feindselig gegenüber.

Wieder keine direkten Entschädigungen

Auch die jetzt gefundene Vereinbarung zwischen der deutschen und der namibischen Regierung krankt an diesem Detail. Wieder spricht Berlin dem nur 2,5 Millionen Einwohner zählenden Halbwüstenstaat die Finanzierung von Entwicklungsprojekten in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro zu – von direkter Entschädigung der Herero und Nama ist erneut keine Rede. Herero-Vertreter sind deshalb alles andere als zufrieden: Wieder einmal seien sie von der eigenen Regierung verraten worden, schimpft Herero-Chef Vekuii Rukoro: "Diese Vereinbarung sühnt das Blut unserer Vorfahren nicht." Rukoro war an den deutsch-namibischen Verhandlungen niemals beteiligt.

Berlin vertritt die Auffassung, direkte Entschädigungszahlungen an Herero und Nama könnten das ethnische Ungleichgewicht Namibias verschlimmern, die die Schutztruppe einst angerichtet hatte. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Doch zumindest auf eine Weise könnte Deutschland seine Schuld gegenüber den Herero und Nama auch auf direktere Weise wiedergutmachen: indem ihnen von weißen Bauern erworbenes Land zur Verfügung gestellt wird. Schließlich ist das der Grund und Boden, der ihnen von den Deutschen einst gestohlen wurde.

Noch heute befinden sich rund 70 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Namibias in der Hand weißer Bauern, während die Mehrheit der Herero und Nama weiter in ausgemergelten Reservaten oder in den Slums der Städte wohnt. Gut möglich, dass die Swapo-Funktionäre auch einen solchen Deal nicht gerne sehen: Ein paar Bedingungen muss sich allerdings auch die namibische Regierung gefallen lassen.

Zögerliche Schritte aus Europa

Berlins – wenn auch zögerliche – Schritte zu einer Wiedergutmachung werden nicht nur in Windhuk argwöhnisch beäugt, auch in Europas Hauptstädten runzeln viele die Stirn. Schließlich handelt es sich bei dem deutschen Schuldgeständnis um das erste einer Kolonialmacht: Doch auch das britische Empire oder Frankreich und Portugal gingen bei der Kolonialisierung Afrikas nicht gerade zimperlich vor.

Den Briten wird sowohl bei der Niederschlagung des kenianischen Mau-Mau-Aufstands sowie in den beiden südafrikanischen Burenkriegen verbrecherisches Vorgehen vorgeworfen. Auch französische Soldaten ließen sich während des Algerienkriegs schwere Menschenrechtsvergehen zuschulden kommen. Das Berliner "Mea culpa" hat endlich einen Damm gebrochen: Die europäische Reuewelle wird hoffentlich weitergehen. Und zwar keineswegs gratis. (Johannes Dieterich, 28.5.2021)