Blicke können täuschen: Die Stimmung war gelöst, als die Regierung am Freitag weitere Öffnungsschritte ankündigte.

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Ab Juli ist wieder (fast) alles beim Alten: Das ist die Botschaft, die der Regierung sichtlich am Herzen liegt. Von sehnsüchtigen Mails aus der Bevölkerung berichten die Regierungsmitglieder, und von der eigenen Vorfreude. "Einen Sommer wie damals" kündigte Vizekanzler Werner Kogler an, Kanzler Sebastian Kurz sagt: "Wir halten somit das Versprechen, dass wir zur Normalität zurückkehren können."

Ehe aber wieder, wie Kurz sagt, nach Herzenslust "geheiratet und gefeiert" werden darf, wartet noch eine Phase begrenzter Vorsicht. Am Freitag haben die türkisen und grünen Koalitionäre deshalb im Verein mit den rundum zufriedenen Landeshauptleuten besiegelt, was sie davor in nicht ganz konfliktfreier Manier zizerlweise angekündigt hatten: Mit 10. Juni werden die bestehenden Anti-Corona-Regeln ein weiteres Mal gelockert.

Die Öffnungsschritte bauen dabei auf dem bereits etablierten Prinzip auf. Zugang zu einer Aktivität oder Einrichtung – Ausnahme ist der Handel – hat grundsätzlich weiterhin nur, wer die sogenannte Drei-G-Regel erfüllt, also geimpft, genesen oder frisch getestet ist. Doch an den jeweiligen Restriktionen vor Ort ändert sich so einiges – aus Sicht von Kunden und Betreibern zum Guten.

Länger Fußball schauen

Auf längere Abende dürfen sich Wirte und deren Gäste freuen: Die Sperrstunde in der Gastronomie wird von derzeit 22 Uhr auf Mitternacht ausgeweitet – das reiche, um sich ein Fußball-EM-Match im Lieblingsbeisl anzuschauen, hebt Kogler hervor. Indoor dürfen dann statt bisher vier acht Erwachsene sowie dazugehörige Kinder an einem Tisch sitzen, draußen sind es 16 Erwachsene samt Kindern.

Eine gewisse Verschärfung gibt es gleichzeitig aber für Beschäftigte in der Gastronomie: Sie müssen sich wie Gäste nun regelmäßig testen lassen, sofern sie nicht genesen oder geimpft sind.

Auch abseits der Wirtshäuser und Cafés werden die Kontaktbeschränkungen gelockert. Privat dürfen sich künftig maximal acht statt vier Erwachsene in Innenräumen treffen. Unter freiem Himmel verdoppelt sich die Maximalzahl auf 16 – wieder jeweils plus Kindern.

Die minimale Platzanforderung wird von 20 auf zehn Quadratmeter pro Person reduziert: Das gilt für Sport- und Freizeitbetriebe ebenso wie im Handel und bei Musikproben im Amateurbereich. Kulturveranstaltungen dürfen zu 75 statt zu 50 Prozent ausgelastet werden – es bleibt aber bei maximal 3000 Gästen outdoor und 1500 indoor. Zudem fällt die Maskenpflicht im Freien, der Mindestabstand schrumpft von zwei auf einen Meter.

Uneingeschränktes Feiern

Mit 1. Juli fällt dann fast alles: die privaten Kontaktbeschränkungen ebenso wie sämtliche Personen- und Abstandsbeschränkungen sowie sämtliche Sperrstunden; die Nachtgastronomie soll im "Laufe des Sommers" nachziehen. Hochzeiten, Konzerte und große Feste sollen dann ebenso wieder uneingeschränkt möglich sein wie etwa auch der Besuch im Fußballstadion.

In der Formel 1 soll das sogar schon ein paar Tage früher gelten: Die Regierung bastelt an einer Ausnahmeregelung für den Grand Prix am 27. Juni in Spielberg in der Steiermark.

Auch im Juli erhalten bleiben hingegen die Drei-G-Regel sowie die Maskenpflicht in Innenräumen, wo dieses Zutrittsprinzip nicht gilt. Das betrifft nicht nur die von der Regierung explizit genannten Supermärkte und öffentlichen Verkehrsmitteln, sondern auch Museen und alle anderen Geschäfte abseits des Lebensmittelhandels.

Die Laune heben

Die Öffnungsschritte werden allerdings nicht nur die Laune der Bürger heben. Die Regierung selbst rechnet damit, dass die Infektionsrate im Gegensatz zu den letzten Wochen wieder anschwellen wird. Doch das sei so lange nicht dramatisch, als die Belastung der Spitäler im bewältigbaren Rahmen bleibe, sagt Kurz und hängt einen Appell an: "Bleiben wir vorsichtig, werden wir nicht übermütig."

Geht die Rechnung auf? Anders als bei der ersten Lockerungsankündigung vor gut einem Monat schlägt der Regierung diesmal keine breite Skepsis aus der Expertenschaft entgegen. "Das Risiko ist sehr überschaubar", urteilt Peter Klimek vom Complexity Science Hub Vienna angesichts einer österreichweiten Sieben-Tage-Inzidenz von gerade einmal 38 Infektionen pro 100.000 Einwohner.

In Dänemark, das mit einem ähnlichen Öffnungsplan früher dran ist, sei es zwar tatsächlich zu einem leichten Anstieg gekommen – doch der habe sich problemlos einebnen lassen.

Den Anstieg wegimpfen

Für Österreich erwartet der Experte nichts anderes. Ein gewisses Plus an Infektionen dank fortschreitender Immunisierung rasch "wegimpfen", sagt Klimek, außerdem sei nun ein höheres Inzidenz-Niveau verkraftbar. Weil die älteren Menschen zu einem Gutteil bereits geschützt sind, zirkuliert das Virus eher unter den unternehmungslustigen Jüngeren, die aber seltener schwer erkranken.

Wer etwa zwischen 75 und 84 Jahre alt ist und positiv auf das Coronavirus getestet wurde, hatte im Laufe der Pandemie ein 19-mal so hohes Risiko, auf einer Intensivstation zu landen, wie ein 35- bis 44-Jähriger.

Mediziner Hutter: "Wir haben uns diese günstige Ausgangssituation teuer erkauft."
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Auch für den Public-Health -Experten Hans-Peter Hutter von der Med-Uni Wien spricht grundsätzlich nichts gegen Lockerungen. Die Reduktion der Quadratmeteranzahl pro Kunden im Handel nennt er überfällig, da das Tragen der FFP2-Maske im Verein mit der Abstandsregelung hier bereits sehr wirksam sei, um Infektionen zu verhindern.

Als ebenso wenig problematisch bewertet er, dass bei privaten Treffen indoor nun acht statt vier Personen erlaubt sind, und das ohne Maske und Abstandsregelung. Denn: Die Bereitschaft, strenge Maßnahmen im privaten Bereich mitzutragen, sei ohnehin nur mehr gering gewesen.

Lüftungssituation

Die Ausweitung von Sperrstunde und Gästezahl in der Gastronomie hält Hutter für "nachvollziehbar", er vermisst dabei aber eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme: "Es bräuchte hier Anweisungen zur Lüftungssituation." Alle Lockerungen in Innenbereichen seien darüber hinaus auch nur vertretbar, solange die Drei -G-Regel wirklich eingehalten wird. Was die Kontrollen betrifft, lassen diverse Anekdoten von Gasthausbesuchern da Zweifel aufkommen.

Man kann die Frage aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive aufwerfen, so wie es die FPÖ tut. Wenn die Lage tatsächlich so entspannt ist: Warum nicht gleich jetzt alle Schranken aufheben? Die Politik befinde sich immer noch auf einer Gratwanderung, hält Klimek entgegen: "Öffnen wir mit einem Schlag alles, könnten uns die Zahlen noch einmal um die Ohren fliegen."

Ähnlich urteilt der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems. Da bis dato erst 15 Prozent der Bevölkerung den vollen Impfschutz hätten, sei Österreich noch nicht so weit, um mehr zu wagen: "Es ist wichtig, dass die Öffnung stufenweise passiert."

Epidemiologe Gerald Gartlehner: "Es ist wichtig, dass die Öffnung stufenweise passiert."
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Jede Lockerung ziehe schließlich umfassende Verhaltensänderungen nach sich, gibt er zu bedenken. Wer etwa ein Wirtshaus besucht, fährt dort womöglich mit einem öffentlichen Verkehrsmittel hin und geht hinterher noch mit Freunden in eine Wohnung etwas trinken: Da gehe es nicht nur um die Ansteckungsgefahr in der Gaststube.

Mit Clustern ist zu rechnen

Solange der Bogen nicht überspannt wird, ist aber auch Gartlehner optimistisch: Mit einem Anstieg der Infektionszahlen in gefährlichem Ausmaß sei nicht zu rechnen, dank fortschreitender Impfungen und dank des anbrechenden Sommers. "Es wird schon den einen oder anderen Cluster geben", sagt er, "doch die sollten sich mit lokalen Maßnahmen bewältigen lassen."

Einig sind sich die Experten aber auch in einem anderen Punkt: Grund zum Zurücklehnen bestehe für die Politik keiner. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, die Pandemie sei vorbei, warnt Mediziner Hutter: "Wir haben uns diese günstige Ausgangssituation teuer erkauft." Es gehe nun darum, diese Ausgangslage aufrechtzuerhalten und für den Herbst vorzudenken.

Ein potenzielles Einfalltor für das Virus sind in der kalten Jahreszeit die Impflücken. Ein Teil der Bevölkerung will sich nicht impfen lassen, bei einem anderen, etwa chronisch kranken Menschen könnte die Immunisierung nicht gut genug wirken. Kommt dann noch eine Grippewelle dazu, könnten die Intensivstationen wieder an die Belastungsgrenze geraten – das gilt umso mehr, wenn sich impfresistente Mutationen breitmachen sollten.

Österreich müsse die großen Kapazitäten für Corona-Tests aufrechterhalten, empfiehlt Klimek. Außerdem müsse der Staat ein Sensorium entwickeln, um feststellen zu können, in welchen Bevölkerungs gruppen die Impfkampagne be sonders wenige Früchte trägt – um dann mit Aufklärung gegenzusteuern. Eines dürfe nicht eintreten: "Dass alle glauben, es kann nichts mehr passieren." (Gerald John, Eja Kapeller, 28.5.2021)