Bild nicht mehr verfügbar.

Israelische Grenzpolizisten gehen gegen palästinensische Jugendliche im Ostjerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah vor.

Foto: AP / Mahmoud Illean

"Wir haben lang genug gewartet", sagt Sula. Als die Uniformierten in ihr Viertel Sheikh Jarrah kamen und zwei Familien aus ihren Häusern vertrieben, war Sula 15 Jahre alt. "Heute bin ich alt genug, meine Eltern zu verteidigen", sagt die 27-Jährige. Das Waffenarsenal, das sie dafür braucht, trägt sie stets bei sich: ein robustes Stimmvolumen, das sie ausschöpft, jede Menge Wut im Bauch und ein Handy in der Hosentasche, das ständig vibriert.

Alle paar Sekunden postet jemand auf Instagram und Tiktok eine neue Grußbotschaft für den palästinensischen Widerstand. Die neuen Helden dieses Widerstandes sind nicht alte Männer in Uniformen und Kopftuch, sondern Ostjerusalemerinnen mit dunklen Sonnenbrillen wie Sula. Aber auch queere Aktivisten aus Beirut, gläubige Musliminnen im Flüchtlingslager und christliche Araber in israelischen Städten.

Wie in jeder Protestbewegung gibt es auch Extremisten, die sich den Märtyrertitel verdienen wollen. Eine Kommandozentrale gibt es aber nicht, auch keinen Führungsstab. Nur ein ideelles Hauptquartier, in Form eines Hashtags: #SaveSheikhJarrah.

In dem Viertel nahe der Jerusalemer Altstadt stehen mehrere Familien vor der Zwangsräumung, weil jüdische Siedler ihre Häuser beanspruchen. Ein Gericht hat den Siedlern recht gegeben, die Familien haben das Urteil bekämpft, nun liegt der Fall beim Höchstgericht.

Brennpunkt Ostjerusalem

Es geht aber längst nicht mehr um die konkreten Häuser. Es geht um das Prinzip: "Wenn Sheikh Jarrah fällt, dann fällt ganz Jerusalem", sagt Muna El-Kurd, eine der prominentesten Instagram-Aktivistinnen aus Sheikh Jarrah. Und Palästinenser in Großbritannien, den USA und der arabischen Welt applaudieren.

Die Frage, wem Jerusalem gehört, steht seit jeher im Zentrum dessen, was früher Nahostkonflikt hieß. Heute gibt es für den ständig brodelnden Vulkan, auf dem Juden und Araber zwischen Mittelmeer und dem Fluss Jordan sitzen, keinen Namen mehr – denn wer das Problem benennt, verrät schon, wo er politisch steht.

Linke Israelis und viele Palästinenser sprechen von "Apartheid" und von "ethnischer Säuberung". Diplomaten und Politiker erklären an Rednerpulten, dass sie immer noch an die Zweistaatenlösung glauben, um sie wenig später beim Glas Wein am Buffet für tot zu erklären.

Da eine Lösung nicht in Sicht war, war es für viele am bequemsten, so zu tun, als gäbe es die palästinensische Frage nicht – bis auf die Palästinenser selbst, die erleben, dass ihr Lebensraum beständig schrumpft. Israel setzte den Siedlungsbau fort, der damalige US-Präsident Donald Trump leistete kräftige Unterstützung.

Palästinensische Einheit

Palästinenserpräsident Mahmud Abbas ist vor allem damit beschäftigt, Kritiker in den eigenen Reihen mundtot zu machen und sein eigenes politisches Überleben zu sichern.

Auch Israels Linke sieht in ihrem Stolpern von Neuwahl zu Neuwahl wenig Anlass, sich einem Thema zu widmen, das ihr keine Freunde, aber mit Gewissheit neue Feinde beschert.

Und die Palästinenser selbst waren zersplittert. Die Mauern in der Landschaft und in den Gedanken taten ihre Wirkung: Hier waren die Palästinenser im Westjordanland, dort die eingesperrten Menschen im Gazastreifen, dazwischen die Ostjerusalemer und in Israel die Nachkommen jener Palästinenser, die schon vor der Staatsgründung hier lebten und danach auch weiter hier leben konnten. In Israel nennt man sie nicht Palästinenser, sondern israelische Araber. Die Spaltung funktionierte. Bis vor kurzem.

In arabischen und gemischten Städten in Israel sind palästinensische Flaggen heute allgegenwärtig. Lieder, in denen die palästinensische Einheit gepriesen wird, werden gesungen. "Es ist ein wiedererwachtes Nationalbewusstsein", meint Salem Barahmeh, ein junger Aktivist aus Ramallah.

Keine politischen Führungsfiguren

Das habe es zwar schon öfter gegeben, "aber diesmal ist es anders", sagt Sheta, eine junge Palästinenserin aus dem Norden des Gazastreifens, im Videochat. "Diesmal stehen die Palästinenser auf der ganzen Welt auf. Und es gibt keine politischen Führungsfiguren, die es organisieren, es kommt von den Leuten selbst."

Das sieht auch Salem Barahmeh so. Die Hamas versuche zwar, die Proteste in Jerusalem zu vereinnahmen, "aber die Proteste waren schon vorher da". Auch wenn sich nach der Eskalation nun vielleicht mehr Menschen für die Hamas begeistern als davor, sei das nur eine Frage der Zeit, glaubt er. "Das war nach jedem Gaza-Krieg so, dass sie danach gestärkt waren. Das verpufft dann wieder."

Was nicht verpufft, ist der Ärger der Jungen. "Es gibt eine riesige Kluft zwischen der Führungselite und den Leuten", meint Sheta. "Unsere Generation fühlt sich überhaupt nicht vertreten."

Das Durchschnittsalter der Palästinenser ist 21 Jahre. Präsident Abbas ist 85 Jahre alt. In der Führung der Palästinensischen Befreiungsorganisation liege das Durchschnittsalter bei 70 Jahren, meint Barahmeh, der sich mit anderen Aktivisten für demokratische Wahlen einsetzt. Palästinenser, die 32 Jahre oder jünger sind, haben in ihrem Leben noch nie gewählt. Die für Ende Mai geplanten Wahlen wurden von Präsident Abbas abgesagt – aus Angst vor einem Machtverlust.

Nichts erreicht

"Abbas hat 30 Jahre lang mit Israel verhandelt und nichts erreicht", sagt Ahmed, ein Student aus Jenin im Westjordanland. "Die Leute haben keine Geduld mehr. Sie leben schon so lange unter der Besatzung und wollen endlich eine Lösung." Die Pandemie habe dieses Gefühl noch verstärkt. "Die Jungen haben abgeschlossene Ausbildungen, finden aber keine Jobs – und Israel lässt sie nicht einreisen, um Arbeit zu finden."

Wenn Israel nun, wie von den USA und Europa gefordert, die Palästinenserbehörde und Langzeitpräsident Abbas zu stärken versucht, um die in Gaza regierende Hamas zu schwächen, dann sei das "nur lächerlich", meint Barahmeh. Abbas habe alle Popularität verspielt. Wenn sich andere Staaten nun in der Region einmischen wollen, dann sollten sie zuallererst Wahlen einfordern.

Was aber, wenn die Hamas gewinnt? "Dann ist das eben so", meint Barahmeh. In einer Demokratie gehe das Recht vom Volk aus, nicht vom Ausland. "Die Deutschen haben ja schließlich auch das Recht, die AfD zu wählen", meint er mit dem Hinweis darauf, dass auch im Westen radikale politische Strömungen im politischen Spektrum vertreten sind. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 29.5.2021)