Seine Politik erregt maßlosen Zorn: Demonstranten in Brasilia machen Präsident Jair Bolsonaro für die Covid-Toten mitverantwortlich.

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Zuletzt wirkte die Corona-Pandemie wie ein Brennglas: Im zögerlichen, mitunter fahrlässigen Umgang mit Covid-19 stellten Populisten wie Jair Bolsonaro in Brasilien oder Donald Trump in den USA die Defizite ihres Regierungshandelns spektakulär unter Beweis.

Die Abwahl Trumps 2020 schien für manche den Anfang vom Ende der populistischen Ära einzuläuten. Doch längst finden sich nicht nur in liberalen Demokratien massenhaft Erzürnte, die das Pandemie-Management ihrer Regierungen als Schikane auffassen: als vorbereiteten Plan, die Angehörigen der verarmenden Mittelklassen zu gängeln und zu entmündigen.

Philosoph Michael Zichy und Autor Jonas Lüscher haben jetzt unter dem Titel "Der populistische Planet" eine höchst aktuelle Bestandsaufnahme des globalen Phänomens zwischen Buchdeckel gepackt. Die Besonderheit: Autorinnen und Autoren aus Ungarn, Kenia, Brasilien, Ägypten oder Indien lieferten Beiträge in Briefform.

Das vielfältige Ergebnis der Spurensuche gleicht einem Kettentext. Fazit: Populisten aller Couleurs durchtauchen die Pandemie. Das diffuse Unbehagen, das autoritären Verführern seit jeher als Geschäftsgrundlage dient, erfährt auf den Krisenschauplätzen dieser Welt eine gefährliche Zuspitzung. Im Folgenden eine Reihe von Wesensbestimmungen der populistischen Gefahr.

Ethnonationalismus

Beiträgerin Ágnes Heller – die ungarische Philosophin starb 2019 90-jährig – verwirft den Begriff Populismus, um ihn kurzerhand durch "Ethnonationalismus" zu ersetzen. Populisten seien zwar Demagogen, stünden aber tendenziell aufseiten des Volkes, nicht der Wohlhabenden. Staatenlenker wie Ministerpräsident Orbán in Ungarn gebärden sich nicht mehr als Fürsprecher des "Volkes", sondern als Beschützer der eigenen Nation. Ethnonationalismus reicht gegebenenfalls tief in den Rassismus hinein. Wer ein "wahrer" Ungar ist und wer nicht, bestimmt die Partei "Fidesz".

Masse

Lange Zeit wurde Demokratie schlechthin mit dem Liberalismus identifiziert. Gemeint sind das allgemeine Wahlrecht, die Gewaltenteilung und die Wahrnehmung von Rechten, die verfassungsrechtlich gewährleistet sind. Doch das Modell erfährt eine schleichende Metamorphose. Überlieferte "Klassen" lösen sich auf. Mit ihrem Verschwinden verlieren die Traditionsparteien an Zuspruch, Massen ersetzen sie.

Pluriversalität

Neue Parteien entstehen, die als Schutzherrschaften ihrer jeweiligen "Nationen" auftreten. Die Abwehr angeblicher Unbilden tritt somit an die Stelle "konstruktiver" Anliegen. Philosophin Heller charakterisiert die modernen Rattenfänger als "negative Ideologen" und zeiht sie des Nihilismus.

Autorin Yvonne Adhiambo Owuor aus Kenia macht in ihrem Beitrag der westlichen Deutungshoheit, den Ansprüchen auf universelle Geltung, mit großer Bitterkeit den Prozess. Ihre Haltung beschreibt sie als "schadenfreud’sch". Die "säkulare Dreifaltigkeit" aus Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit habe über Länder wie Irak, Libyen oder Afghanistan vor allem Chaos und unermessliches Leid gebracht. An die Stelle eines vermeintlich "Universalen" solle die "Pluriversalität" treten. Ganz gleich, ob man die Fixierung auf Erlösergestalten "tribalistisch" oder "ethnochauvinistisch" nenne: Der Populismus sei "wie ein Kanarienvogel in einem Bergwerk", der das Aufsteigen von Gasen "aus einer großen Existenzkrise der Menschheit" anzeige.

Als Gegenmittel plädiert Owuor für mehr Wahrhaftigkeit im Benennen globaler Missstände.

Dekretismus

Illiberale Demokratien beanspruchen für sich Schutzfunktionen. Häufig veranstalten ihre Vertreter ein Kesseltreiben gegen Funktionseliten ("die politische Klasse") und demonstrieren "Tüchtigkeit", indem sie geltendes Recht unterlaufen oder dessen Wortlaut negieren. Zur Durchsetzung vermeintlicher "Reformen" bedienen sie sich einer Unzahl von Dekreten. Die Grundlage ihrer Politik ist affektiv.

Neo-Feudalismus

Der Populismus gleicht selbst einem Virus. Er ist mit der verblüffenden Fähigkeit ausgestattet, sich den jeweiligen Gegebenheiten erfolgreich anzupassen. Seine Mutationen reichen bis zu Jair Bolsonaros "tropischem Protofaschismus" in Brasilien. Dieser verbindet Verächtlichkeit gegenüber Minderheiten und Andersdenkenden mit pöbelhaften Manieren. Der Inder Naren Bedide weist auf einen weiteren Wesenszug hin: Populisten gebärden sich wie Lehensherren, die ihren Vasallen Schutz und Stabilität verheißen. Dabei predigen sie – mit Hinweis auf immaterielle Errungenschaften – ihren Günstlingen Verzicht. Und stopfen sich derweil die eigenen Taschen bis obenhin voll. (Ronald Pohl, 31.5.2021)