In vielen kleineren Städten Frankreichs nimmt die Idee, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos anzubieten, Fahrt auf.

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Die einfachste Möglichkeit, um notorische Ticketpreller zu bekämpfen, wäre es, die Fahrten mit Bus, Bim und U-Bahn kostenlos zu machen. Dazu würde die Gratisnutzung auch dazu führen, dass Autos zusehends von den Straßen verdrängt werden, sagen Befürworter. Würden Stadtbewohner und Öffi-Muffel aber tatsächlich öfter aufs Auto-, Radfahren oder Zufußgehen verzichten?

Die Idee, öffentliche Verkehrsmittel in einer Stadt für alle Einwohner kostenlos anzubieten, ist nicht neu. Von den Wiener Grünen gab es diesen Vorschlag etwa bereits im vergangenen Jahr. Dieser stieß aber rasch auf Ablehnung des roten Koalitionspartners. In vielen anderen Städten nimmt die Idee aber gerade Fahrt auf: In Luxemburg etwa sind seit vergangenem Jahr alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos, womit laut Regierung die Luftverschmutzung reduziert werden soll.

Auch einige kleinere Städte in Frankreich oder Deutschland experimentieren mit dem Modell. Befürworter versprechen sich davon nicht nur weniger Autos, Emissionen und Staus, sondern auch eine gerechtere Mobilität für alle Teile der Bevölkerung.

100 Städte weltweit

Schon in den 1960er-Jahren experimentierten einige Städte mit kostenlosen öffentlichen Verkehrsmitteln. Mittlerweile haben rund 100 Städte und Orte überall auf der Welt auf die eine oder andere Weise Gratis-Öffis eingeführt. In manchen Städten ist jedoch nur ein Teil des öffentlichen Netzes gratis, in anderen dürfen bestimmte Bevölkerungsgruppen, beispielsweise gemeldete Bewohner oder Pensionistinnen, kostenlos damit fahren.

In Tallin, der Hauptstadt Estlands, können Einwohner beispielsweise seit 2013 ohne Ticket mit den Öffis fahren. Das führte laut einer Studie dazu, dass der Anteil der Menschen, die in der Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sind, von 55 auf 63 Prozent stieg. 2018 weitete man das Modell auf andere Teile des Landes aus.

Sozial schwachen Familien helfen

Ein Beispiel aus Frankreich zeigt, welche Folgen eine solche Umstellung haben könnte. In der im Norden des Landes gelegenen Stadt Dünkirchen sind öffentliche Verkehrsmittel seit über zwei Jahren kostenlos nutzbar. Laut Stadtregierung habe dies dazu beigetragen, einzelne Stadtviertel wiederzubeleben und die CO2-Emissionen zu senken. Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass acht Monate nach der Einführung des Modells Fahrten mit dem Bus um 65 Prozent unter der Woche und 125 Prozent am Wochenende gestiegen sind.

Nun experimentieren auch einige größere französische Städte mit der Idee. In Paris und bald auch Straßburg dürfen Schulkinder unter 18 Jahren gratis mit den Öffis fahren. Laut der Straßburger Regierung sei dies eine Klimaschutzmaßnahme, da bisher viele der rund 80.000 Schülerinnen und Schüler von ihren Eltern mit dem Auto in die Schule gebracht werden. Auch wolle man damit sozial schwächeren Familien helfen: Diese sollen sich bei zwei Kindern rund 550 Euro im Jahr sparen.

Nicht "kostenlos"

Viele Ökonomen und Wirtschaftsexperten haben allerdings so ihre Bedenken, was die Einführung eines kostenlosen Öffi-Netzes betrifft. Denn nur weil "kostenlos" im Namen stecke, bedeute das nicht, dass niemand dafür zahlen müsse. Statt die öffentlichen Verkehrsmittel mit den Ticketpreisen zu finanzieren, müssen etwa die Steuern für alle oder einen Teil der Bewohner erhöht werden.

In Luxemburg beispielsweise fehlen der Regierung durch die Umstellung 41 Millionen Euro an Ticketgebühren pro Jahr, die nun wieder durch höhere Steuern – insbesondere für die wohlhabendere Schicht der Bevölkerung – hereinfließen sollen. Allerdings waren die Öffitickets auch vor der Umstellung nicht besonders teuer: Schon zuvor bezogen beispielsweise viele Pendler subventionierte Tickets. An den rund 500 Millionen Euro, die der Staat jedes Jahr für den öffentlichen Verkehr ausgibt, machen die Einbußen durch die wegfallenden Tickets nur einen kleinen Teil aus, heißt es von der Regierung.

Audrey Pulvar, stellvertretende Bürgermeisterin von Paris, will kostenfreie öffentliche Verkehrsmittel bis 2026 auf alle Bewohner in einer Region Frankreichs ausweiten. Die dafür nötigen Gelder sollen durch eine höhere Besteuerung von emissionsintensiven Autos und großen Konzernen wie Amazon wieder hereinkommen. Zudem sollen Kosten eingespart werden, die durch Verkehrsunfälle, Luftverschmutzung und Staus entstehen und die sich laut Pulvar jedes Jahr auf zehn Milliarden Euro in der Region belaufen.

Kritik an Klimaeffekt

Aber einige Experten und Expertinnen sind skeptisch, ob die Umstellung tatsächlich positive Auswirkungen hat. "Ich halte es nicht unbedingt für notwendig, Öffis kostenlos zu machen", sagt etwa Angelika Rauch, Mobilitätsforscherin des Unternehmens TBW Research. Denn oftmals seien die Auswirkungen einer solchen Maßnahme schwer abzuschätzen. Die Expertin denkt dabei an den sogenannten Rebound-Effekt: So könnte ein kostenloses öffentliches Verkehrssystem dazu führen, dass Menschen übermäßig oft mit Bus oder Bim unterwegs sind und damit der Verkehr, die Emissionen und die Zersiedelung letzten Endes zunehmen.

Einige Experten befürchten, dass sich dadurch auch die Qualität der öffentlichen Verkehrsmittel verschlechtern könnte: Etwa, dass Busse und Straßenbahnen noch überfüllter sind oder es zu mehr Beschädigungen und Verschmutzungen in den Fahrzeugen kommt.

Kaum weniger Autos

Tatsächlich kommen Studien zu dem Schluss, dass nur wenige Menschen, die vorher mit dem Auto unterwegs waren, danach auf öffentliche Verkehrsmittel umstiegen. Die meisten zusätzlichen öffentlichen Verkehrsteilnehmer seien vor allem Fußgänger, Radfahrer und Menschen, die zuvor generell weniger unterwegs waren, heißt es in einer anderen Studie.

Ein ähnliches Bild zeigte sich etwa in Tallin. Dort hat sich der Autoanteil am Verkehr nur leicht von 31 auf 28 Prozent reduziert. Gleichzeitig ist auch das Zufußgehen von zwölf auf sieben Prozent gesunken. Demnach würden kostenlose Öffis kaum etwas am Mobilitätsverhalten der Auto- und Motorradfahrer verändern. Eine größere Veränderung, so einige Expertinnen und Experten, könnte durch Maßnahmen wie höhere Parkplatzgebühren oder Spritpreise herbeigeführt werden.

Statt einer generellen Ticketbefreiung könnte ärmeren Bevölkerungsgruppen auch direkt geholfen werden, argumentieren einige Experten: Beispielsweise, indem etwa arbeitslose Menschen keine Tickets für Öffis benötigen. Dadurch sollen der Regierung größtenteils auch die Einnahmen aus dem Ticketverkauf bleiben.

Kein Thema in Österreich

In Österreich sieht die Entwicklung bezüglich öffentlicher Verkehrsmittel freilich anders aus. Statt eines Gratis-Öffi-Netzes setzt sich die Regierung für die Umsetzung des sogenannten 1-2-3-Tickets ein, durch das die Ticketpreise künftig günstiger werden sollen.

Auch in Wien prallte der Vorstoß der Grünen im vergangenen Jahr zur Einführung von gratis Öffis schnell ab. 400 Millionen würde die Umstellung kosten, rechneten die Grünen damals vor. Von der Wiener SPÖ hieß es, der Vorschlag sei unrealistisch, führe zu einem großen Einnahmenentfall und einem "massiven" Fahrgastanstieg, der der Stadt Milliarden kosten würde.

Anstatt nur einzelne Maßnahmen wie Öffi-Preise für die Mobilitätswende zu diskutieren, brauche es viele Maßnahmen, die zusammenspielen, sagt Angelika Rauch. "Wir müssen öffentlichen Verkehr, Rad- und Autoinfrastruktur gemeinsam denken, Radangebote etwa mit guten Öffi-Anbindungen abstimmen. Über den Preis allein werden wir nicht viel bewirken." (Jakob Pallinger, 5.6.2021)