Man kann es auch übertreiben – und das halbvolle Glas einfach am Boden zerdeppern: So kommt man gar nicht in die Verlegenheit zu versuchen, das Beste aus einer Situation zu machen.

Nicht, dass ich mir nicht auch einen "echten" Mai gewünscht hätte und lieber bei milden Temperaturen fröhlich herumgetrabt wäre, statt mir vor dem Loslaufen den ganzen "Mainember" (wahlweise auch "Oktai") hindurch zu überlegen, welche und wie viele Schichten ich anziehen oder mitnehmen soll.

Denn es gibt tatsächlich Inspirierenderes und Motivierenderes, als bei einstelligen Plusgraden bei böigem Wind loszulaufen. Aber so schlimm, wie von manchen Leuten beschrieben, war das bisherige Laufjahr auch nicht. Ganz im Gegenteil.

Deshalb soll hier wieder einmal eine Lanze für das Schlechtwetterlaufen gebrochen werden.

Thomas Rottenberg

Anlass dafür ist ein Posting, dass mir vor etwa einer Woche in einem Online-Laufforum entgegensprang. Er sei, schrieb da jemand, heuer noch keinen Meter gelaufen. Drinnen nicht, weil das Fitnesscenter zu sei – und draußen nicht, weil das Wetter es nicht zuließe.

Ich klickte auf das Bild des Jammerers: Nein, der gute Mann lebt nicht am Nordpol, sondern in Mitteldeutschland. Und, Nein, das Posting war nicht ironisch, sondern absolut ernst gemeint: Profil und Aktivitäten des Posters zeugten von einem Leben in der ironiefreien Zone.

Normalerweise halte ich mich in solchen Fällen zurück. Diesmal nicht: "Keine Lust zu haben ist ok", antwortet ich, "Aber ansonsten gilt: Wer will, findet Wege. Wer nicht will, hat Ausreden."

Es kam wie erwartet: Die einen hackten auf den armen Nichtläufer ein ("Warmduscher!"), die anderen auf mich ("arroganter Schnösel"). Und wie in jedem online geführten "Diskurs" gab es nur dunkelschwarz und grellweiß – aber kein Grau. Geschweige denn Bunt.

Einige Zeit lang klickte ich immer wieder amüsiert in die "Debatte". Aber irgendwann tat mir der vom Toben der Elemente irgendwo in Mitteldeutschland von Jänner bis Mais zu sportlicher Untätigkeit Verurteilte dann auch leid. Sein Posting mag überspitzt und übertrieben klingen. Für ihn selbst aber dürfte die Welt tatsächlich so aussehen. Seine Verzweiflung war echt und darüber zu spotten, nicht ok.

Jean Marie Welbes

Ganz abgesehen davon ist der gute Mann mit diesem Mindset nicht allein. Angst vor Sport bei schlechten Wetter ist weit verbreitet. Ihr Auftreten verhält sich meist indirekt proportional zum tatsächlich an der frischen Luft verbrachten Teil der eigenen Lebenszeit.

Überraschend ist das nicht nur bei LäuferInnen und Läufern: Glaubt man Nicht-Radfahrenden Menschen, wechseln sich in Österreich das ganze Jahr über Blizzards, Hagel- und Gewitterstürme mit Starkregen ab. Oder der Asphalt schmilzt unter sengender Sonne.

Dass Tage, an denen solche Bedingungen herrschen, eher im Vermeidungs-Narrativ (aka "Ausreden") denn in der Wetterstatistik zu finden sind, erwähne ich hier nur der Korrektheit halber: Es spielt nämlich keine Rolle.

Thomas Rottenberg

Denn die Sache mit der Bewegung im Freien bei "schlechtem" Wetter ist ein Henne-Ei-Problem: Wer bei Regen oder Wetter, bei dem man "nicht einmal den Hund" rausschicken würde, noch nie draußen unterwegs war, wird es ohne zwingenden Grund so bald auch nicht tun und damit auch an jenem "Learning" vorbeischrammen. Wer hingegen anstatt zu jammern nach positiven Aspekten des rausgehen bei "Wä-Wetter" sucht, wird sie finden. Und das nicht zu knapp.

Das gilt auch beim Sport. (Ich spreche hier ausdrücklich von Sport und Bewegung im "sicheren" zivilisationsnahen Bereich. Im ausgesetzten oder gar alpinen Raum gelten andere Regeln.)

Jean Marie Welbes

Wer sich drauf einlässt, dem oder der gehen meist recht rasch die Augen auf. Die bekommen dann auch rasch ein sehr symptomatisches Glitzern, das sich als Lachen über das ganze Gesicht ausbreitet und zu einem fast bereuendem Staunen wird:

"Wenn ich gewusst hätte, wie leiwand das sein kann, wäre ich doch schon viel früher …"

Niemand hat dich gehindert, du hättest nur mitkommen müssen.

"Wieso hast du mir nie gesagt, wie fein das ist?"

Hab ich eh – aber du hast mir nicht geglaubt.

"Du hast es eben einfach nie richtig erklärt, erzählt, gesagt!"

Thomas Rottenberg

Die Krux ist halt wirklich das Erklären. Etwa das mit der Nässe: Dass es anfangs nicht leiwand ist auch mit guter Ausrüstung ins Kaltnasse hinaus zu rennen, ist unbestritten. Das kostet Überwindung. Nur in Wirklichkeit sind leichter bis mäßiger Regen beim Laufen meist egal. Ein gesunder Körper kommt ohnehin bald auf "Betriebstemperatur" und kann sich auf leichte Kühlung von außen gut einstellen.

Gegen Wind, also zu rasches Abkühlen, kann man sich mit Hausverstand und einem bisserl Erfahrung leicht wappnen. Das gilt im Grunde ohnehin bei jedem Wetter.

Mir persönlich ist die Regenjacke sogar bei leichtem bis mäßigem Regen meist nach ein paar Minuten zu warm oder zu dicht. Im Zusammenspiel der Faktoren Wind, Tempo und Temperatur gibt es kein objektives Richtig oder Falsch – nur subjektive Erfahrungswerte.

Dass ich die Jacke (und oft auch ein in einem Plastiksackerl trocken verpacktes Ersatzshirt) auch im Stadtgebiet mit U-Bahn-Anschluss trotzdem dabeihabe, hat einen ganz einfachen Grund: Ich will mich auch unterwegs entscheiden können, einen Regenlauf abzubrechen – aber verschwitzt und regennass im (auch nur leichten) Wind auszukühlen, ist ein Garant, sich eine Erkältung einzufangen.

Thomas Rottenberg

All das zu wissen ist das Eine. Dennoch rauszugehen aber das Andere: Der Mensch ist träge – und wozu haben wir etliche tausend Jahre in die Entwicklung von zivilisatorischen Komfortzonen investiert, wenn wir dann…

Nur: In ihrer heimeligen Komfortzone versäumen Sie auch eine ganze Menge. Dinge, von denen Sie danach – wenn Sie wieder zurück sind – auch noch zehren. Erlebnisse, die Sie mit großer Wahrscheinlichkeit von Mal zu Mal leichter aufstehen und rausgehen lassen. Momente und Details, die erzählt vielleicht kitschig bis banal klingen, aber den Unterschied zwischen einem guten oder einem verlorenen Tag ausmachen können.

Thomas Rottenberg

Kastanienblüten auf nass-spiegelnden Straßen etwa. Der Geruch von frisch-nassem Gras. Das Vogelzwitschern, knapp bevor der Regen aufhört – oder wenn er gleich wieder einsetzen wird. Das Strahlen noch der dunkelsten Wolke, wenn sich die Sonne langsam durch sie hindurch zu nagen versucht. Und manchmal ein Regenbogen.

Thomas Rottenberg

Allen voran aber die frisch gewaschene Luft während und nach Niederschlägen. Außerdem sinkt die Wahrscheinlichkeit anderen Menschen in die Quere zu kommen, je bleiern-grauer der Himmel wird.

Und diejenigen, denen man dann dennoch über den Weg läuft oder radelt, sind meist entspannt und freundlich. Aber vor allem eines: Komplizinnen und Komplizen. Nicht, weil sie den Frühling, die Sonne, den Mai, nicht zu lieben oder zu schätzen wüssten, sondern weil sie gelernt haben, auch die Qualitäten vermeintlich "schlechten" Wetters zu erkennen und genießen.

Thomas Rottenberg

Wenn man da bei teils strömendem Regen unterwegs ist, hört man dieses fröhlich-verschwörerische "bei schönem Wetter kann das jeder" immer wieder und stimmt jedes Mal lachend zu. Obwohl die Botschaft falsch ist: Auch bei vermeintlich schlechtem Wetter kann das jeder und jede. Nur wissen es die meisten nicht. Und das ist eigentlich schade. (Thomas Rottenberg, 1.6.2021)

(Ein besonderer Dank den beiden Damen, die mir einen ihrer Schirme borgten und die Kamera hielten: Nein, ich laufe sonst nicht wie Mary Poppins durch die Welt – obwohl es vielleicht einen Versuch wert wäre.)


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Jean Marie Welbes