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Ein Angehöriger der Stó:lō Nation führt ein traditionelles Ritual für die toten Kinder des Ex-Internats durch. Mithilfe der Adlerfedern zeigt er den Seelen den Weg zum Kanu, das sie nach Hause bringen soll.

Foto: Darryl Dyck/The Canadian Press via AP

Das erklärte Ziel war die Auslöschung der indigenen Kultur. Mehr als 150.000 Kinder wurden kanadischen Ureinwohnern von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis ins Jahr 1996 entrissen, um sie in Internate zu bringen. Sie durften dort oft weder ihre Sprache sprechen noch ihre Traditionen pflegen. Viele wurden schwer misshandelt oder getötet, wie der jüngste Fund eines Massengrabs von 215 Kindern unter einem ehemaligen Internat zeigt.

Zum Ziel dieser Umerziehungsanstalten sagte der französische Missionar und Bischof Vital Grandin im Jahr 1875, dass man den Kindern eine "ausgesprochene Abneigung gegen das indigene Leben" beibringen wolle. Sie sollten sich zum Schluss für ihre Herkunft schämen: "Die Kinder werden alles Indigene verloren haben, außer ihrem Blut", schrieb Grandin. Die eingesetzte "Wahrheits- und Aussöhnungskommission" nannte die Internate im Jahr 2015 einen "kulturellen Genozid".

Weiterhin Diskriminierung

Kanadas Premier Justin Trudeau nennt es eines der dunkelsten Kapitel der nationalen Geschichte und verspricht einmal mehr, die Rechte der indigenen Bevölkerung zu stärken: "Traurigerweise ist das keine Ausnahme oder ein Einzelfall", sagt Trudeau in Bezug auf das entdeckte Massengrab: "Wir werden uns nicht davor verstecken. Wir müssen die Wahrheit anerkennen."

Die Wahrheit ist, dass auch in der Gegenwart indigene Kanadierinnen und Kanadier benachteiligt werden. Denn obwohl Trudeau im Wahlkampf 2015 angekündigt hat, dass bis Ende März 2021 alle indigenen Gemeinschaften Zugang zu Trinkwasser haben werden, ist das noch immer Zukunftsmusik. Mehr als 60 Warnungen, das Leitungswasser abzukochen, weil es sonst gesundheitsschädlich ist, sind in indigenen Gemeinschaften noch aufrecht.

Klage gegen Regierung

Verschiedene Stämme haben sich nun zusammengeschlossen und klagen die Regierung in Ottawa. Insgesamt 2,1 Milliarden kanadische Dollar (1,4 Milliarden Euro) ist die Klage schwer und steht für die Kosten, die durch die Anlieferung von Wasserflaschen entstanden sind, und jene, die durch den Bau von Wasseraufbereitungsanlagen entstehen werden.

Kanadas Minister für Indigene Angelegenheiten, Marc Miller, hat jüngst im Interview mit der britischen Tageszeitung Guardian zugegeben, dass es keine "glaubwürdige Ausrede" für das Versagen der Regierung gebe: "In einem Land, das eines der wohlhabendsten und wasserreichsten der Welt ist, ist es inakzeptabel, dass viele Gemeinschaften keinen Zugang zu sauberem Wasser haben."

Auf der Grundlage von Gesetzen, die noch aus der Kolonialzeit stammen, ist es indigenen Stämmen verboten, ihre eigenen Wasseraufbereitungsanlagen zu fördern und zu betreiben. Gleichzeitig weigert sich die Regierung in Ottawa, Lösungen zu finden. Probleme mit E.-coli-Bakterien und giftigen Schwermetallen sind Realität für viele Stämme. In der kanadischen Provinz Manitoba ist eine Trinkwasserwarnung bereits seit 1997 in Kraft. Ein Plan der Regierung, eine Wasseraufbereitung zu installieren, wurde 2011 wegen zu hoher Kosten verworfen.

Planlos gegen Gewalt

Einen konkreten Plan, wie die Gewalt gegen indigene Mädchen und Frauen verhindert werden kann, hat Ottawa noch immer nicht vorgelegt. Bereits vor zwei Jahren kam eine nationale Untersuchungskommission zu dem Schluss, dass es sich bei dem Ausmaß an Gewalt um einen Genozid handle. Mehr als 4.000 Frauen und Mädchen sind in den vergangenen 30 Jahren entweder verschwunden oder getötet worden.

Im Juni 2020 wollte Trudeaus Regierung einen Aktionsplan vorlegen, der wegen der Covid-19-Pandemie weiterhin nicht fertig ist. Und das, obwohl Gewalt gegen Frauen während der Lockdownmaßnahmen weltweit gestiegen ist.

Wichtige Gesetzgebung

Bereits vor fünf Jahren verpflichtete sich Kanada, die Deklaration der Vereinten Nationen in Bezug auf die Rechte indigener Personen zu implementieren. Ende 2020 wurde zum ersten Mal ein Gesetzesentwurf präsentiert, der noch heuer das Parlament passieren soll. Darin enthalten ist etwa, dass neue Gesetzesvorhaben daraufhin geprüft werden, ob sie die Rechte der Ureinwohner wahren. Bauvorhaben auf indigenem Gebiet bräuchten zudem die "freie, vorzeitige und informierte Zustimmung" der Ureinwohner. Es sei aber unmöglich, diese zu definieren, sagte Justizminister David Lametti am Montag.

Sheryl Lightfoot, die im März als erste kanadische Ureinwohnerin ins UN-Indigenen-Expertengremium berufen wurde, sieht den Gesetzesentwurf prinzipiell positiv. Kritik, dass wichtige Bauvorhaben durch die indigenen Gemeinschaften blockiert werden könnten, entkräftet sie im Interview mit The Narwhal: "Wenn ein Projekt die Zustimmung der Indigenen hat, dann wird es weniger Klagen, Proteste und Unterbrechungen geben – und das ist auch gut für das Geschäft."

Dennoch hat das Land laut Lightfoot noch einen weiten Weg zur Gleichberechtigung vor sich: "Kanada hinkt in fast allen Bereichen hinterher." (Bianca Blei, 2.6.2021)