Ein Demonstrant in Tel Aviv mit Netanjahu-Maske und Shirt, auf dem steht: "Die Feier ist vorbei."

Foto: AFP / Jack Guez

Am Ende fielen alle Tabus. Wer sich mit Mitte-links-Parteien in eine Regierung setze, der schleppe ein "Schandmal" mit sich herum, das ihm "viele Jahre lang bleiben wird", sprach Regionenminister Ofir Akunis, ein treuer Gefährte von Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu. Der Fluch galt jenen rechts gesinnten Politikern, die sich nun in eine Regierung mit Linksparteien setzen wollen, um Netanjahu abzulösen. Am Dienstag wurde wieder intensiv verhandelt. Der Druck stieg – und bei vielen die Angst. Morddrohungen gegen die Koalitionsverhandler und deren Familien häuften sich. In sozialen Medien wurde eine Todesannonce der Linkspolitikerin Tamar Zandberg veröffentlicht. Zuvor waren mehrere Verhandler unter verschärften Polizeischutz gestellt worden. Die Koalitionsgespräche waren Dienstagabend noch im Gange.

Frage: Es ist die vierte schwierige Regierungsbildung in nur zwei Jahren, und es gab vier Neuwahlen knapp hintereinander. Warum fällt in Israel die Regierungsbildung so schwer?

Antwort: Die Parteienlandschaft ist so stark polarisiert wie die israelische Gesellschaft selbst. Vor der Wahl legen sich fast alle Parteien fest, mit wem sie auf keinen Fall koalieren werden. Das schränkt nach der Wahl die Zahl der Koalitionsvarianten stark ein. Darin lag das Problem bei der jüngsten Serie an Neuwahlen: Weder Netanjahus Lager noch der Anti-Netanjahu-Block kamen auf eine Mehrheit. Netanjahu hätte es diesmal schaffen können, wäre nicht ein Teil seiner rechtsextremen Verbündeten strikt gegen eine Zusammenarbeit mit arabischen Parteien. Ohne diese gab es aber keine Mehrheit für die Rechten. Man könnte sagen, die Rechtsextremen sind über ihren eigenen Rassismus gestolpert.

Frage: Warum lassen die Parteien vor der Wahl nicht einfach offen, ob und mit wem sie regieren wollen?

Antwort: Wer mit wem regieren oder nicht regieren wird, ist für viele Wähler ein wichtiges Wahlmotiv. Vereinfacht gesagt ist ungefähr die Hälfte der Israelis überzeugt, dass das Land nach zwölf Jahren Netanjahu-Ära dringend einen Wandel braucht. Die andere Hälfte neigt zur Ansicht, dass es für das Land nicht gut wäre, eine Regierung zu haben, die auch linke Parteien umfasst. Vor allem die Ultraorthodoxen haben Angst vor einem solchen Szenario. Ein politisch einflussreicher Rabbiner drückte das sinngemäß so aus: lieber mit den Arabern als mit den Linken. Der Grund ist, dass man von Linken harsche Einschnitte bei Religionsprivilegien befürchtet, die in Israel stark ausgeprägt sind. Von einer islamistischen Partei erwartet man sich das eher nicht. Der "Block des Wandels", der sich zum Ziel gesetzt hat, die Ära Netanjahu zu beenden, stützt sich aber auf ein Konglomerat aus den unterschiedlichsten Parteien: religiöse Nationalisten, Antireligiöse, Rechte, Linke und (als Unterstützer von außen) Islamisten. Die Ultraorthodoxen sind nicht vertreten.

Frage: Warum sind die Parteien bei ihren Koalitionsverhandlungen so stark unter Zeitdruck?

Antwort: Das Grundgesetz sieht dafür starre Fristen vor. Nach der Wahl erhält üblicherweise der Wahlgewinner 28 Tage Zeit, um eine Regierung zu bilden – in diesem Fall war das Netanjahu. Da ihm das nicht gelang, ging der Ball an den Chef der zweitstärksten Partei, in dem Fall ist das Yair Lapid. Seine 28-Tage-Frist endet am Mittwoch um Mitternacht. Gelingt es nach zwei Monaten nicht, eine Koalition zu bilden, bekommt zwar das Parlament noch eine Chance, sich selbst eine Regierung zusammenzuwürfeln – das ist aber wenig aussichtsreich. Neuwahlen sind dann so gut wie fix.

Frage: Wenn nun Yair Lapid dem Präsidenten sein Kabinett vorstellt, ist die neue Regierung damit im Amt?

Antwort: Nein, und es ist nicht einmal fix, dass der Regierungswechsel auch stattfindet. Es ist nicht der Präsident, der die Regierung angelobt, sondern das Parlament, das der Regierung sein Vertrauen ausdrückt. Dieses Vertrauensvotum soll nächste Woche stattfinden. Es braucht eine einfache Mehrheit. Nun hat Yair Lapid zwar alles unternommen, um sich eine Mehrheit zu sichern – aber wer dann letztlich am Tag der Abstimmung im Plenum der Knesset sitzt und für seine Koalition stimmt, ist nicht seine Entscheidung. Nun wissen aber alle Parteien, dass sie viel zu verlieren haben, wenn diese Koalition nicht klappt. Fünfte Neuwahlen wären dann nämlich die Folge – und somit drohende Stimmverluste. Manche riskieren dabei, die Chance auf Regierungsmacht verpasst zu haben – und andere riskieren sogar den Rausfall aus dem Parlament.

Frage: Naftali Bennett von der Rechtspartei Jamina soll Premierminister werden und nach zwei Jahren von Lapid abgelöst werden. Wie sicher ist es, dass das klappt?

Antwort: Die Koalition ist ein wackeliges Konstrukt. Zu unterschiedlich sind die Interessen und Positionen. Allerdings trifft das auch auf die derzeitige Koalition unter Netanjahu zu. Was die neue Regierung stabilisieren könnte, ist, dass niemand große Lust auf Neuwahlen hat – ganz im Gegensatz zum noch amtierenden Premier Netanjahu.

Frage: War da nicht noch eine andere Wahl?

Antwort: Ja, genau, die des Präsidenten. Heute, Mittwoch, wählt das Parlament zwischen dem früheren Oppositionsführer Yitzhak Herzog (60) und der Lehrerin und Aktivistin Miriam Peretz (67). Der Gewinner oder die Gewinnerin folgt am 9. Juli auf Reuven Rivlin. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 1.6.2021)