Das Argument der Herdenimmunität wiegt schwer. Dabei ist die Datenlage zur Impfung von Zwölf- bis 15-Jährigen noch unbefriedigend, sagen Ingrid Zechmeister-Koss und Inanna Reinsperger vom Austrian Institute for Health Technology Assessment.

In den USA werden Kinder bereits geimpft, in der EU wurde nun der Impfstoff zugelassen. Aber ist die Impfung Zwölf- bis 15-Jähriger sinnvoll?
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Eine Entscheidung der europäischen Zulassungsbehörde für eine Zulassung – nicht gleichzusetzen mit einer Empfehlung – des Covid-19-Impfstoffs von Biontech/Pfizer für Zwölf- bis 15-Jährige ist gerade erfolgt, aber bereits Wochen vorher wurden in Österreich von Politik und Meinungsbildnern uneingeschränkte Empfehlungen für die Impfung von Kindern verlautbart. Eine sachliche Diskussion über die Notwendigkeit und Begründung einer pauschalen Impfung von Kindern fehlt jedoch gänzlich.

Als Orientierung für die Impfentscheidung steht Eltern derzeit Folgendes zur Verfügung: die private Impfentscheidung von Politikern, der Verweis auf das Risiko einer schweren Sars-CoV-2-Infektion oder deren Spätfolgen – häufig dargestellt anhand bedrohlicher Einzelfallbeschreibungen ohne sachliche Fakten und Prävalenzzahlen –, das Argument der Herdenimmunität oder die Aussicht, dass mit der Impfung Kindern wieder Normalität ermöglicht werden kann.

Eine Impfung ist eine präventive Maßnahme, um einen gesunden Menschen vor einer potenziell schweren Erkrankung zu schützen. Ein solcher Eingriff erfordert eine faktenbasierte Nutzen-Risiko-Abwägung, um eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Fehlende Daten

Die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie führt seit April 2020 ein detailliertes bundesweites Register über das Erkrankungsgeschehen bei Kindern, in Österreich gibt es keine äquivalente Erhebung. Von 14 Millionen Kindern und Jugendlichen in Deutschland wurden rund 1.200 mit einer Sars-CoV-2-Infektion in einem Krankenhaus behandelt. Das sind weniger als 0,01 Prozent. Bei vier Kindern (0,00003 Prozent) wurde die Infektion als Todesursache festgestellt. Ein schwerer oder gar tödlicher Krankheitsverlauf ist bei Kindern daher extrem selten. Spätfolgen nach einer Sars-CoV-2-Infektion können auftreten, jedoch ist dazu die Datenlage noch lückenhaft. Wie häufig schwerwiegende, nicht behandelbare Spätfolgen tatsächlich sind, lässt sich auf Basis von Einzelfallberichten nicht seriös sagen.

Demgegenüber steht die derzeitige Datenlage zur Impfung von Kindern. In der Studie, auf deren Basis der Impfung eine Zulassung erteilt wurde, wurden gerade einmal gut 1.000 Kinder mit dem Impfstoff geimpft, und die Nachbeobachtung in den bisher veröffentlichten Daten betrug einen Monat nach der zweiten Impfdosis. Eine Reihe weiterer Studien ist erst in der Durchführung. Bei dieser Datenlage können seltene (schwere) Nebenwirkungen bei einer Massenanwendung in keiner Weise ausgeschlossen werden. Selbst wenn nur bei einem von 100.000 Kindern eine schwerwiegende Nebenwirkung auftreten würde, wären bei einer Impfung sämtlicher 1,3 Millionen ein- bis 15-jähriger Kinder 13 betroffen.

Prioritätensetzung

Gleichzeitig gibt es eindeutige Belege zu den psychosozialen Folgen der Pandemie bei Kindern. Es scheint ein wesentlich wichtigerer Beitrag für die Gesundheit der Kinder zu sein, die Energie und Ressourcen der Bekämpfung der psychischen Folgen zu widmen, anstatt voreilig bei noch unbefriedigender Datenlage die Impfung für Kinder zu priorisieren.

Anstatt also tatsächlich die Gesundheit der Kinder zu verbessern, werden vielmehr die Kinder benutzt, um – mit dem Argument der Herdenimmunität – jene zu schützen, die wirklich ein erhöhtes Risiko haben, an Covid-19 schwer zu erkranken oder zu versterben, sich aber nicht impfen lassen. Die Wahlfreiheit der Erwachsenen geht hier auf Kosten der Kinder, obwohl nicht einmal ausreichend geklärt ist, ob die Impfung von Kindern überhaupt den erhofften Nutzen für das Pandemiegeschehen hat.

Fehlende Impfstoffe

Während in den reichen westlichen Ländern nun also die Priorisierung der Impfung für die niedrigste Risikogruppe in Betracht gezogen wird, erkranken und versterben gleichzeitig in den weniger reichen Regionen täglich weiterhin tausende Menschen an Covid-19, weil dort Impfstoffe für die Hochrisikogruppen fehlen. Das ist nicht nur unsolidarisch gegenüber weniger Privilegierten, es verkennt auch die globale Dimension der Pandemie, die wir nicht dadurch in den Griff bekommen werden, einzelne Nationen "durchzuimpfen".

Ein verantwortungsbewusster Umgang mit dem Thema muss Eltern die Gelegenheit geben, eine informierte Entscheidung für oder gegen die Impfung treffen zu können. Dazu ist eine verständliche und objektive Aufbereitung der Datenlage notwendig, um die gesundheitliche Gefährdung durch eine Sars-CoV-2-Infektion für diese Altersgruppe oder individuelle Risikogruppen, zum Beispiel Kinder mit Vorerkrankungen, und mögliche Risiken durch eine Impfung gegeneinander abwägen zu können.

Versuche, die Entscheidung der Eltern zu manipulieren, und sei es über sozialen Druck oder mit dem Argument der wiedergewonnenen Normalität, sind fehl am Platz. Das Recht auf soziale Teilhabe der Kinder kann nicht an eine Covid-Impfung geknüpft werden. Die Voraussetzung für eine Indikation zum Impfen der Kinder ist die medizinische Notwendigkeit und somit ihr eigener Gesundheitsschutz und ihr Wohlergehen. (Ingrid Zechmeister-Koss, Inanna Reinsperger, 2.6.2021)