Eine "starke Einflussnahme auf die Justiz" sieht Wiens Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) vonseiten der Bundesregierung. Das sei "ungewöhnlich für ein demokratisch ausgerichtetes Land". Ein Wechsel der Regierungsspitze sei trotzdem nur mit Neuwahlen möglich.

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) will, dass in der SPÖ alle an einem Strang ziehen. Man habe bereits mit den politischen Mitbewerbern "eine große Herausforderung".
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STANDARD: Sie haben vor der Islam-Landkarte gewarnt, weil sie eine Spaltung fördere. Wo genau liegt das Problem? Umgekehrt könnte man sagen: Ist es nicht komisch, wenn die Moscheen, Gebetshäuser im Dunkeln bleiben?

Ludwig: Das sind sie ja nicht. Es ist der Konnex, der mich irritiert hat. Es wäre möglich gewesen, sie in Abstimmung mit der Interessenvertretung der Muslime durchzuführen. Das ist nicht geschehen. Es ist eine Landkarte, die es seit 2012 gibt, die reaktiviert wurde. Es besteht der Verdacht, dass es mehr der Politpropaganda nutzt statt dem Miteinander.

STANDARD: Ist die Karte grundsätzlich verfehlt, oder hätte man es anders machen müssen?

Ludwig: Es stellt sich mir die Sinnfrage. Ist das mit Dialog verbunden oder mit Stigmatisierung? Ich orte eher geringere Dialogfähigkeit. Die ÖVP hält so ehemalige FPÖ-Wähler bei der Stange, deshalb werden in regelmäßigen Abständen Symbole gesetzt, um diese Wechselwähler zwischen FPÖ und ÖVP zu halten. Das hat nichts mit Integration zu tun, das ist rein parteipolitisch.

STANDARD: Sie waren in den letzten Monaten in der Pandemiebekämpfung besonders vorsichtig. Hat der Bund nun zu exzessiv geöffnet?

Ludwig: Mir war wichtig, nicht alles gleichzeitig und zu einem Zeitpunkt zu öffnen. Das hat, unterstützt von anderen Bundesländern, seinen Niederschlag gefunden. Wir sind in Wien sehr vorsichtig geblieben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Gastronomie müssen sich ähnlich oft testen lassen wie die Gäste. Die Gastro ist ein sicherer Raum, weil Mitarbeiter und Gäste getestet sind. Der Bund hat nun diese Wiener Lösung für ganz Österreich übernommen.

STANDARD: Gesundheitsstadtrat Peter Hacker will bis Herbst Kinder ab zwölf Jahren impfen – wie realistisch es, dass sie zu Schulbeginn eine Dosis erhalten?

Ludwig: Wir werden alles daransetzen. Es ist sinnvoll, dass man auch Kinder und Jugendliche impft. Aber: Wir sind davon abhängig, wie viele Impfdosen geliefert werden.

STANDARD: In Bars feiern Menschen mit Drei-G-Regel – am Donaukanal, seit die Maskenpflicht draußen gefallen ist, unkontrolliert. Ist angedacht, dass diese wieder zurückkommt?

Ludwig: Derzeit nicht, weil es schwer erklärbar wäre, warum man das dann gerade an diesen Orten macht. Also appellieren wir stark an die Eigenverantwortung, bestimmte Sicherheitsmaßnahmen – und dazu gehören Abstandsregeln – einzuhalten.

STANDARD: Sie haben nach dem letzten Lockdown gesagt, es wird keinen neuen geben. Garantieren Sie das?

Ludwig: Das kann ich nicht garantieren, und niemand anderer kann das. Aber wir werden alles daransetzen, es zu verhindern. Wir wären zu vielen anderen Maßnahmen bereit, um einen Lockdown zu verhindern.

STANDARD: Wie schwierig war es, den Ost-Lockdown innerhalb der Wiener Stadtregierung durchzusetzen? Gesundheitsstadtrat Peter Hacker war nicht ganz so vorsichtig wie Sie. Gab es einen Streit?

Ludwig: Nein, wir tauschen Argumente aus, und es ist wichtig, politische Entscheidungen wissensbasiert zu treffen. Das gilt innerhalb der Stadtregierung, aber auch im Kontakt mit anderen Bundesländern. Und mit dem Bund.

STANDARD: Der burgenländische Landeshauptmann Hans Peter Doskozil ist als Erster aus dem Weg der Ostregion ausgebrochen. Sie waren nicht erfreut darüber. Die Zahlen sind auch im Burgenland gesunken – haben Sie ihm Unrecht getan?

Ludwig: Er hat die Entwicklung der Inzidenz gesehen und ich die Situation an Spitälern und auf Intensivstationen, wo neben Wienerinnen und Wienern auch Menschen aus anderen Bundesländern gelegen sind. Ich habe meine Gesamtverantwortung auch über Wien hinaus wahrgenommen.

STANDARD: Doskozil hat kurz nach dem Ausscheren aus der Ostregion auch angekündigt, seine Funktionen in der Bundespartei zurückzulegen. Wie ist Ihr Verhältnis seither?

Ludwig: Die Stellvertreter wurden von 17 auf sechs reduziert. Es war klar, dass nicht mehr jeder Landesparteivorsitzende Stellvertreter wird sein können. Von daher war auch mir klar, dass auch ich vielleicht nicht mehr dabei sein kann – ich habe das auch angeboten.

STANDARD: Aber Doskozils Rückzug war schon von negativen Emotionen begleitet.

Bürgermeister Michael Ludwig: "Man muss für sich selbst entscheiden, ob man noch handlungsfähig ist. Politik ist kein Selbstzweck."
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Ludwig: Wir sind eine politische Organisation und kein Sesselkreis, kein Gruppendynamik-Seminar. Wichtig ist, dass politisch alle an einem Strang ziehen. Wir haben mit den politischen Mitbewerbern eine große Herausforderung. Was das Staatsganze betrifft, gibt es Entwicklungen, die ich mit Sorge betrachte.

STANDARD: Welche Entwicklungen sprechen Sie damit an?

Ludwig: Dass es offensichtlich eine starke Einflussnahme auf die Justiz gibt, stimmt mich nachdenklich. Es gibt Institutionen in dieser Republik, auf die man achten sollte: das Parlament, die Justiz, die Freiheit der Medien. Da muss man sensibel reagieren, wenn man den Eindruck hat, dass das nicht ernst genommen wird. Das beginnt damit, dass man über Einrichtungen des Parlaments sagt, das sei wie in der Löwinger-Bühne, dass man Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofs nicht ernst nimmt, bis hin zu regelmäßigen konzertierten Angriffen auf die Justiz – das sind keine Spontanmeldungen, sondern das ist eine strategische Ausrichtung. Man muss nicht weit schauen – auch innerhalb Europas –, um zu sehen, wohin das führt.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, die ÖVP treibt Österreich politisch in Richtung Ungarn?

Ludwig: Wenn ich die regelmäßigen Angriffe auf die Justiz sehe, ist das ungewöhnlich für ein demokratisch ausgerichtetes Land. Das sind keine Einzelmeinungen, das ist politisch organisiert. Wenn das eine staatstragende Partei so organisiert vor sich herträgt und gezielt eine Auseinandersetzung mit der Justiz sucht, ist das nicht gut für das Staatsganze.

STANDARD: Wann muss der Kanzler seine Funktion zur Verfügung stellen?

Ludwig: Das muss jeder Politiker für sich entscheiden. Sinnvoll ist sicher, sich die Tradition der Zweiten Republik anzusehen. Die verschiedenen Ehrenvorstellungen der eigenen Partei sollten auch beachtet werden. In den vergangenen Jahren hat die ÖVP ja einige Vorschläge gemacht.

STANDARD: Was würden Sie tun?

Ludwig: Man muss für sich selbst entscheiden, ob man noch handlungsfähig ist. Politik ist kein Selbstzweck.

STANDARD: Als härtere Maßnahmen diskutiert wurden, sind Sie viel an der Seite von Kanzler Sebastian Kurz aufgetreten. Wurden Sie politisch von ihm vereinnahmt?

Ludwig: Es ist nicht leicht, mich politisch zu vereinnahmen. Mir ging es darum, in dieser schwierigen Situation Verantwortung zu übernehmen und Stabilität zu vermitteln. Das gilt auch für die anderen Landeshauptleute. Wenn es schwierig ist, weiß man, wo die Landeshauptleute sind – wenn es um Öffnungen geht, die auf Freude in der Bevölkerung stoßen, hat man sich bei den Pressekonferenzen im Bundeskanzleramt auf die Mitglieder der Bundesregierung beschränkt.

STANDARD: Der burgenländische SPÖ-Geschäftsführer Roland Fürst hat vor kurzem in einem STANDARD-Gastkommentar geschrieben, es sei "nach 35 Jahren Zeit, die türkise Familie aus der politischen Verantwortung zu kippen". Könnte das durch eine politische Allianz über Parteigrenzen hinweg gelingen, wie etwa in Israel? Wären Sie da dabei?

Ludwig: Wenn diese Regierung scheitert, braucht es Nationalratswahlen. Danach muss man schauen, welche Mehrheitsverhältnisse möglich sind, und auch, welche Kooperationsforen von Parteien möglich sind.

STANDARD: Wären Sie in diesem Fall für einen Lagerwahlkampf zu haben?

Ludwig: Nein, ich bin generell für einen Wahlkampf, der deutlich macht, wofür die SPÖ steht, und nicht dafür, mit Koalitionsangeboten in eine Wahl zu gehen – das habe ich auch in Wien nicht gemacht. Ich stehe für die Positionen, für die wir uns als Sozialdemokratie bewerben. Und gerade in der jetzigen Situation sind das Ziele, die sich mit Arbeitsmarktfragen, mit Sozialpolitik beschäftigen, mit der Stärkung des Wirtschaftsstandorts, mit den Schwierigkeiten, die die Menschen jetzt haben, auch aufgrund der Corona-Krise.

STANDARD: Politische Beobachter meinen: Wenn jetzt Wahlkampf wäre, würde die ÖVP Kurz als Opfer der Justiz und des Parlaments darstellen und damit auch Erfolg haben …

Ludwig: Was Kurz tut, interessiert mich persönlich gar nicht. Mich interessiert, was die Sozialdemokratie will, und dafür trete ich ein. Ich setze meine Aktivitäten nicht in Relation eines politischen Mitbewerbers. Ich mache, was ich für richtig halte, und das ist mit Sicherheit das, was gut für die Bevölkerung ist. (Oona Kroisleitner, Petra Stuiber, 1.6.2021)