Er ist krank, Parkinson, und der Jüngste ist er auch nicht mehr. Es wird, sagt Rahaman Ali (77), nicht mehr allzu lange dauern, bis er seinen Bruder wiedersieht. "Ich bin traurig, weil ich meinen Bruder nicht sehen kann. Aber ich bin auch glücklich, weil ich ihn im Himmel sehen werde."

Der Bruder ist vorausgegangen, so wie er immer vorausgegangen ist. Am Mittwoch, dem 3. Juni, jährt sich zum fünften Mal der Todestag von Muhammad Ali. Er war Rahamans großer Bruder, der um eineinhalb Jahre Ältere. Der Größte, "The Greatest", nicht nur des Boxsports, war er sowieso. Hätte es einer Dokumentation bedurft, so gab es sie am 19. November 1999. Da stand Muhammad Ali, der dreimalige Weltmeister im Schwergewichtsboxen, auf der Bühne der Wiener Staatsoper und im Zentrum der World Sports Awards zu Ehren der größten Sportstars des 20. Jahrhunderts.

Muhammad Ali (jeweils links) und Rahaman Ali. Ein Bild aus frühen Jahren.
Foto: privat

Gefragt

Der legendäre Kommentator Sigi Bergmann erinnerte sich da an "den grandiosen Tänzer, der es mit seinem neuen Boxstil verstanden hatte, die Kunst und das Boxhandwerk zu verbinden". Nun war er "traurig, als ein zitternder Riese mühsam die Bühne betrat und sich mit heiserer Stimme bedankte".

Rahaman Ali ist derzeit ein gefragter Interviewpartner, schließlich hat er "die ultimative Biografie" verfasst, deren deutsche Version im Wiener Egoth-Verlag erschienen ist. Der Titel lag auf der Hand, Mein Bruder, Muhammad Ali. Es wäre keine Überraschung, wenn sich das Buch auch in Deutschland gut verkaufen wird – wie der STANDARD sind dieser Tage etwa auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder Die Welt mit Rahaman Ali in Kontakt gewesen.

"Nicht einmischen"

Ihn zu sprechen ist nicht möglich, er beantwortet Fragen per E-Mail, so sie nicht zu viel mit aktueller Politik zu tun haben. Da will er sich "grundsätzlich nicht einmischen", heißt es. Auf Donald Trump oder Polizeigewalt gegen Schwarze geht er lieber gar nicht erst ein. Allgemein hält er fest: "Sicher haben die USA immer noch Probleme mit Rassismus. Aber ich denke doch, dass sich die Lage in den vergangenen Jahrzehnten verbessert hat."

Im Buch schreibt er über seine und seines Bruders Kindheit: "Unsere Hautfarbe bestimmte, wo wir hin essen gehen konnten, wo unser Vater arbeiten konnte, in welchen Parks wir spielen durften und wie wir behandelt wurden, wenn wir gegen das Gesetz verstießen.. Und: "Die Tatsache, dass wir so eingeschränkt waren, war ein Stachel, der sehr tief saß."

Das Weihnachtsgeschenk

Als Rudolph Valentino Clay, der sich später Rahaman Ali nennen wird, am 18. Juli 1943 in Louisville, Kentucky, zur Welt kommt, ist sein Bruder Cassius Marcellus Clay, der sich später Muhammad Ali nennen wird, eineinhalb Jahre alt. Sie wachsen "an der Grenze zur Armut" auf, der Vater ist Schildermaler, die Mutter Putzfrau und Köchin. Zu Weihnachten 1953 bekommen die Brüder ein Fahrrad geschenkt, eines gemeinsam, erinnert sich Rahaman Ali heute zurück. "Aber es ist vor allem mein Bruder damit gefahren." Weil: großer Bruder.

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Die Brüder beim 65. Geburtstag der Legende.
Foto: AP/Bohannon

Einige Monate später, im Oktober 1954, hat Rudolph dann ein eigenes Fahrrad, die Brüder besuchen einen Markt im Zentrum von Louisville, stellen ihre Räder draußen ab. Drei Stunden später kommen sie zurück, und die Räder sind weg. Gestohlen. "Muhammad begann zu weinen. Er hatte Angst, dass uns der Vater eine Tracht Prügel verpassen würde." In einem Haus ganz in der Nähe, so hören die Brüder, hält sich ein Polizist auf, sie wollen hin und Anzeige erstatten, vielleicht kann das den Vater beruhigen.

Der Polizist

Das Haus ganz in der Nähe ist allerdings keine Polizeistation, sondern entpuppt sich als Fitnesscenter, und der Polizist ist nicht nur Polizist, sondern auch Boxtrainer. Joe Martin nimmt die Anzeige der Burschen auf und lädt sie ein: "Warum kommt ihr nicht morgen noch einmal vorbei, dann könnt ihr boxen lernen." Wenig später ist Cassius Clay Mitglied in Joe Martins Boxstudio. "Ich folgte ihm", schreibt Rahaman Ali, "so wie immer." Die Fahrräder sind übrigens nicht mehr aufgetaucht, und der Vater, wenn’s denn wahr ist, hat auf eine Züchtigung verzichtet.

Prügel wird Cassius Clay zeit seiner Karriere, vor allem am Ende, zur Genüge kassieren. Doch jetzt steht er am Anfang. Erster echter Höhepunkt ist der Olympiasieg 1960 in Rom. Auch der kleine Bruder erweist sich als talentiert. Doch dass er an die Klasse von Cassius nicht herankommen wird, ist Rudolph bald klar. Er findet sich ab und gut zurecht in der Rolle des Sparringspartners. "Wir wuchsen zusammen auf, lebten zusammen, trainierten zusammen, reisten zusammen, verbrachten unsere Zeit unter Prominenten, trafen Präsidenten, unsere Namen standen sogar gemeinsam auf den Fight-Cards."

Der 24. Februar 1964

Ein Highlight, hält Rahaman Ali heute fest, war der 25. Februar 1964. In Miami Beach tritt sein großer Bruder zum letzten Mal unter dem Namen Cassius Clay und zum ersten Mal um die Weltmeisterschaft an, er besiegt den Titelverteidiger Sonny Liston in Runde sieben. Kurz zuvor hat Rudolph sein Profidebüt ebenfalls gewonnen. "Das war schon eine sehr spezielle Nacht für uns beide." Wenig später machte Cassius Marcellus Clay seine Mitgliedschaft in der Nation of Islam öffentlich, er konvertierte und wählte Muhammad Ali als Namen. Und was tat der kleine Bruder? Er folgte. Aus Rudolph Valentino Clay wurde Rahaman Ali.

Rahaman Ali (mit Fiaz Rafiq), "Mein Bruder, Muhammad Ali". € 29,90 / 407 Seiten. Egoth-Verlag, Wien 2021

Es waren die Sechzigerjahre, es war die Zeit der Beatles, der Stones, der Mondlandung, es war die Zeit von Muhammad Ali. Seine großen Kämpfe zählten zu den ersten großen Fernsehevents. Er verweigerte den Militärdienst in Vietnam. "I ain’t got no quarrel with the Vietcong ... No Vietcong ever called me nigger." Der WM-Titel wurde ihm aberkannt, er holte ihn sich zurück, 1974 beim "Rumble in the Jungle" in Kinshasa gegen George Foreman. Der Kampf sollte jahrzehntelang besungen werden, er wird es heute noch (In Zaire, Johnny Wakelin). Ali hatte als zweiter Schwergewichtsboxer nach Floyd Patterson das ungeschriebene Gesetz "They never come back" gebrochen, er brach es noch ein zweites Mal, am 15. September 1978 in der Revanche gegen Leon Spinks, der ihm zuvor den Titel abgeknöpft hatte.

Weitergeboxt

Speziell die letzten Kämpfe hätte sich Muhammad Ali, meinen viele, besser erspart. Doch er boxte weiter, auch weil er mit Geld nicht umgehen konnte, fast pleite war. Er trat gegen Joe Frazier zum "Thrilla in Manila" an. Und, und, und. Im Herbst 1980 scheiterte ein Titelanlauf gegen Larry Holmes, am 11. Dezember 1981 verlor Ali gegen Trevor Berbick seinen letzten Kampf. Da war er bereits von der Krankheit gezeichnet, die ihn dreieinhalb Jahrzehnte begleiten sollte, ein durch Gehirntraumata hervorgerufenes boxerisches Parkinson-Syndrom.

Rahaman Ali, von Parkinson viel später heimgesucht, hat "jetzt noch viele gute Tage". Er hat nur 18 Fights bestritten, früher aufgehört und weit weniger Schläge kassiert als Muhammad Ali. Was er dem großen Bruder sagen wird, wenn er ihm ein letztes Mal gefolgt ist und sie sich wiedersehen? "Ich liebe dich." (Fritz Neumann, 3.6.2021)