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Wie viel dürfen Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs kosten?

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Wien – Wer in das Reich der Jäger und Sammler will, muss warten. Eine resolute Dame bewacht den Eingang. Das Eintrittsticket ist ein Einkaufskorb. Ehe sie diesen aushändigt, heißt es ab in die Schlange. Dutzende Kunden stellen sich in einem Shoppingcenter am Rande Wiens geduldig an. Die Geschäfte rundum sind spärlich besucht, allein in der Filiale des Diskonters Action herrscht Betriebsamkeit.

Kinder wuseln auf der Suche nach Spielwaren und Süßigkeiten durch die Gänge, Frauen tauschen sich über die Qualität der Pölster und Stabmixer aus. Männer packen Boxershorts zwischen Winkelschleifer und Katzenfutter. Mitarbeiter in grellgelben Warnwesten mahnen, zwei Meter Abstand zu wahren.

Seit sechs Jahren findet Action in Österreich sein Glück in den schmalen Geldbörsen seiner Kunden. 72 Filialen hat der Konzern mit niederländischen Wurzeln hierzulande eröffnet. Corona konnte die Expansion nicht stoppen. Während der Einzelhandel nahezu erstarrte, stampfte der Billiganbieter 18 Märkte aus dem Boden. Im Juni kommen zwei weitere hinzu. Dabei wagt sich Action zusehends auch ins Herz der Städte vor. "Wir sind Nahversorger", sagt Boyko Tchakarov und schließt auch den Schritt in prominente Lagen wie die Wiener Mariahilfer Straße nicht aus. "Wir sind für alles offen."

Groß, finanzstark, ehrgeizig

Der gebürtige Bulgare arbeitete einst für Lidl, ehe er zwölf Jahre lang die Geschäfte von C&A Österreich mitverantwortete. Einen Monat vor dem Ausbruch der Pandemie wurde er Chef von Action Österreich. Einen schlechteren Zeitpunkt für den Start hätte er nicht erwischen können, resümiert Tchakarov, "aber macht man es richtig, bieten sich große Chancen". Ware rund um den täglichen Bedarf ermöglichte es ihm, seine Filialen während drei Lockdowns offenzuhalten. Den 1.500 Mitarbeitern blieb Kurzarbeit bis auf wenige Wochen erspart. Bis Jahresende sollen 200 weitere Jobs entstehen.

Europaweit betreibt der Konzern mittlerweile 1.800 Standorte. Im Coronajahr kamen 164 Märkte hinzu, der Umsatz stieg dadurch in Summe um zehn Prozent auf 5,5 Milliarden Euro.

Sie heißen Action, Tedi, Tk Maxx, Pepco und Thomas Philipps. Sie sind in Europa breit aufgestellt, finanzstark und ehrgeizig. Werbetrommeln zu schlagen haben sie nicht nötig. Kunden laufen ihnen auch so in Scharen zu. Noch mehr, seit die Arbeitslosigkeit hoch ist und die Krise die Einkommen schmälert.

Regional und bio, recycelt und CO2-neutral kaufen die Österreicher ein, seit Corona die Welt in Atem hält, geben Experten die neue Linie vor. Sie mag politisch korrekt sein. Die Lebensrealität spiegelt sie nicht wider.

Wachsender Bedarf an Restposten

Immer mehr Menschen seien genötigt, sich bei ihm mit wichtigen Dingen des Alltags einzudecken, sagt Christian Weidhaus. Der Unternehmer betreibt unter der Marke Cherry acht Filialen in Niederösterreich und dem Burgenland. Über den Handel mit Feuerzeugen fand er Eingang ins Geschäft mit Restposten. Heute kauft er Überproduktion und Konkursmasse auf. Vieles davon ist Markenware mit kleinen Mängeln. Vor allem aber ist es billig.

Weidhaus vergleicht seine Shops, die sich auf Flächen von bis zu 2.400 Quadratmetern erstrecken, mit Sozialmärkten. "Nur dass sich bei uns niemand outen und seinen Stolz am Eingang abgeben muss." Seine Kunden waren die Ersten, die durch die Krise den Job verloren, betont er und erzählt von Österreichern, die jeden Cent für den Einkauf sammeln.

Die bevorstehende Welle an Pleiten werde bald auch Menschen aus höheren Einkommensschichten in seine Märkte zwingen. "Es klingt makaber, aber natürlich profitiert meine Branche von der sinkenden Kaufkraft." Die Zeiten, in denen der Reiz des Schnickschnacks überwog, seien jedenfalls vorbei. Die Leute suchten nur fürs Leben Notwendiges und kämen vor allem der günstigen Lebensmittel wegen.

Neue Spieler steigen ein

Der große Bedarf an Produkten im Preiseinstieg ist auch internationalen Marktriesen ein guter Nährboden. Der polnische Konzern Pepco, Tochter der südafrikanischen Steinhoff-Gruppe, die sich einst an Kika/Leiner versuchte, steht in Österreich in den Startlöchern. Er hält Einzug in Standorte der Schuhkette CCC, die hierzulande ihrerseits unter dem Namen "Halfprice" eine Handvoll Off-Price-Stores eröffnen und damit Tk Maxx Konkurrenz machen will. Pepco ging Ende Mai in Warschau an die Börse, was Steinhoff fast eine Milliarde Euro einbrachte, Geld, das der Händler für den Abbau seiner Schulden dringend braucht. Pepco setzt mit 3.200 Filialen in 16 Ländern gut 3,5 Milliarden Euro um.

Auf dem Sprung nach Österreich ist auch Thomas Philipps. Der Osnabrücker Familienbetrieb zählt gut 250 Märkte und ist mit 35 Jahren Diskonterfahrung ein Veteran der Branche. Fertigsuppe gibt es bei ihm ebenso wie Gartenmöbel. Martin Gaber, Geschäftsleiter für Österreich, bestätigt auf STANDARD-Anfrage die Vorbereitungen für die Expansion über die Grenze. "Es ist fix, wie kommen." Schon vor Jahren gekommen, um zu bleiben, ist Tedi.

Günstige Schnelldreher

Mit Restposten allein finden diese Konzerne nicht das Auslangen. Sie ordern bei Produzenten weltweit in Wochen schwächerer Auslastung containerweise Nachschub und vertreiben die sich schnell drehende Ware unter Eigenmarken. Grenzen kennt ihr Sortiment keine: Wer in ihren Regalen kleine Küchenhelfer sucht, endet mit Buddhastatue, Gartenschlauch, Hanteln, Snacks und Socken an der Kassa. Regionale Vorlieben eines Landes sind irrelevant: 95 Prozent der Produkte sind europaweit ident.

Die Logistik ist hocheffizient, die Kostenstruktur schlank, die Miete niedrig. Mehr als neun Euro im Monat pro Quadratmeter spielt es für Hausbesitzer selten. Supermärkte zahlen in guten Lagen bis zu 25 Euro, erhob der Marktforscher Regiodata. Doch Vermieter verzichten lieber auf Einnahmen, als Leerstände zu riskieren, die infolge der Pandemie Lücken in Handelsflächen reißen.

Für Frequenz sorgen Diskonter jedenfalls: Einzelne Standorte zählen täglich mehr als tausend zahlende Kunden. Viele große Schuhhändler müssen sich mit weniger als 30 zufriedengeben. Mit teuren Onlineshops schlagen sich die meisten Billigsdorfer gleich gar nicht herum: Das Geschäftsmodell der Impulskäufe und Überraschungen sieht sich in stationären Geschäften besser aufgehoben.

Volle Einkaufssackerln als Luxus

"Auch wenn es sich banal anhört, aber den Menschen liegt der Jagdtrieb nach Schnäppchen in den Genen", sagt Stephan Mayer-Heinisch, Präsident des Handelsverbands. Dass vieles nach dem kurzen Kick des Jagderfolgs im Müll landet, sei die Kehrseite der Medaille. "Es ist dieses Gefühl, sich was leisten zu können, aus dem Vollen zu schöpfen", das einen in die Arme der Diskonter treibe, ergänzt Marktforscher Andreas Kreutzer. In einer Gesellschaft, in der es schwieriger wurde, sozialen Aufstieg zu dokumentieren, sorgen volle Einkaufssackerln für Luxus, den man sich anderswo nicht leisten könne. "Wer hat heute noch Geld für ein Haus am Bisamberg?"

Die breite Masse der Konsumenten sei hybrid, gibt Kreutzer zu bedenken. "Der Mensch kauft biologisches Obst und Gemüse, fährt jedoch mit einem uralten Diesel mit kaputtem Kat. Er demonstriert fürs Klima, fliegt aber in den Urlaub und kauft beim Textildiskonter."

Sozial erwünschte Antworten

Die Forschung bestätige den "medial aufgeblasenen" Hype rund um mehr Nachhaltigkeit nicht. Viele Umfragen würden sozial erwünschte Antworten abbilden. Das tatsächliche Handeln sei anders. Auch bei der Debatte um teureres Fleisch denke man vieles nicht zu Ende. "Vermögende werden diese Diskussion gern führen. Ich plädiere für einen genaueren Blick von unten auf die Gesellschaft." (Verena Kainrath, 2.6.2021)