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Naomi Osaka stieg am Montag aus den French Open aus. Sie wolle ihre psychische Gesundheit schützen.

Foto: AP Photo/Lynne Sladky

Tennisstar Naomi Osaka ist am Montag aus den French Open ausgestiegen. Die Japanerin begründete ihren Rückzug mit Depressionen und einer Sozialphobie, letztere habe ihr Pressekonferenzen verunmöglicht. Um dieser Situation zu entgehen, ließ die Nummer zwei der Welt die Pressekonferenz aus. Ein großer Aufschrei, eine Geldstrafe und ein drohender Turnierausschluss folgten.

Dem kam die 23-Jährige nun mit einem bemerkenswert offenen Statement über ihre psychische Gesundheit zuvor. Rund drei bis fünf Prozent der Bevölkerung in Mitteleuropa leiden an einer Sozialphobie, sagt Peter Stippl. Der Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie erklärt im STANDARD-Interview, was sich hinter dieser Erkrankung verbirgt und wie man sie behandelt.

STANDARD: Wie haben Sie die Debatte um Osaka erlebt?

Stippl: Für mich war befremdlich, dass der Tennisverband Strafen verhängt, wenn sich eine Spielerin nicht einem Interview stellen will. Für mich ist es nachvollziehbar, dass eine Sportlerin nach einer Spitzenleistung in ein gewisses Loch fällt. Das kennt man vom Marathon, und ein Tennismatch ist damit durchaus vergleichbar. Ich fand die Reaktion vom Verband brutal der Sportlerin gegenüber.

STANDARD: Osaka hat ihren Rückzug unter anderem mit einer Sozialphobie begründet. Was versteht man darunter?

Stippl: Davon spricht man, wenn ein Mensch soziale Dinge, die man sonst problemlos beherrscht, aus einer bestimmten Drucksituation nicht kann. Das häufigste Beispiel ist, wenn man sich beim Einkaufen an der Kassa anstellen muss. Plötzlich wird dieser Person heiß, sie fühlt sich von allen beobachtet. Sie will davonrennen, ein peinliches Gefühl. Die Steigerung davon wäre die Vermeidungshaltung, dass man also gar nicht mehr einkaufen geht. Dann ruft man Freunde an, ob sie einem etwas mitnehmen können – oder man bestellt telefonisch.

STANDARD: Wo fängt es an, problematisch zu werden, was fällt noch unter Schüchternheit?

Stippl: Es gibt drei Stufen. Solange ich mit freiem Willen entscheide, ist es in Ordnung. Etwa wenn ich eine Party auslasse, weil ich lieber daheim bleibe oder ich den Gastgeber nicht mag. Bei Schüchternheit braucht man viel Energie, um sich einer Herausforderung zu stellen, einer Prüfung oder auch einem Interview. Eine Rampensau liebt die Öffentlichkeit – eine schüchterne Person steht unter Druck. Je größer der Druck, desto fürchterlicher die Situation. Aber: Mit viel Kraft bewältigt man die Lage, auch wenn es kein Genuss ist. Bei einer Angststörung kann ich sie nicht mehr bewältigen.

STANDARD: Wen kann Sozialphobie treffen?

Stippl: Jeden. Ein Spitzensportler ist nicht anfälliger als andere, aber er oder sie hat das Problem, sich öfters einer öffentlichen Herausforderung stellen zu müssen. Etwa bei Interviewfragen: "Warum haben Sie nicht gewonnen?" "Was ist denn los in letzter Zeit?" Ich kann mir vorstellen, dass Dominic Thiem, der von der Körpersprache her kein extrovertierter Mensch ist, Interviews aktuell auch unangenehm findet. "Jetzt haben Sie sich so große Hoffnungen in Paris gemacht und sind in der ersten Runde ausgeschieden. Trainieren Sie schlecht? Fehlt die Motivation?"

STANDARD: Jetzt sagen Kritiker, die paar Fragen können ja nicht so schlimm sein, das müsse ein Spitzensportler aushalten. Werden psychische Erkrankungen unterschätzt?

Stippl: Absolut. Es ist kein Zufall, dass Topmanager oder Sportler ab einem gewissen Niveau Rhetoriktraining bekommen, um sich systematisch auf Interviews vorzubereiten. Aber im Falle Osakas wird die Sozialphobie möglicherweise grob mit der Schüchternheit verwechselt. Wenn eine Situation für Menschen schaffbar wäre, würden sie sie ja angehen. Aber hier handelt es sich um eine wirkliche Blockade. Im Extremfall verlassen erkrankte Menschen wochenlang nicht mehr das Haus.

STANDARD: Angenommen, jemand hat Sozialphobie. Was kann man dagegen machen?

Stippl: Ich würde einen Kontakt zu einem Psychotherapeuten suchen und ihm oder ihr die Situation schildern. Der Profi sieht, ob Bedarf besteht. Unangenehme Situationen kann man trainieren. Wenn jemand nicht mehr aus dem Haus geht, kann man mit kurzen Spaziergängen anfangen, wenn weniger Leute auf der Straße sind. Oder man kann das Einkaufswagerl aus der Schlange schieben, in einen ruhigeren Bereich des Supermarkts gehen, um etwas herunterzukommen. Im zweiten Anlauf klappt das dann mit der Kassa. Es geht bei sogenannten Expositionsübungen darum, die Situation zu meistern und dem Vermeidungszwang zu entkommen. Im Extremfall ist medikamentöse Unterstützung möglich.

Peter Stippl ist der Präsident des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie.
Foto: ÖBVP

STANDARD: Osaka hat gesagt, dass sie Kopfhörer trägt, um ihre soziale Phobie zu dämpfen.

Stippl: Das ist eine Strategie, ja. Man kann natürlich keine Ferndiagnosen stellen. Aber psychotherapeutisch ist wichtig, Patienten zu zeigen, dass sie Dinge gut können. Osaka hat vor tausenden Fans im Stadion und Millionen TV-Zusehern gespielt. Gewinnen kann sie. Aber das Sprechen vor 40 Journalisten fällt ihr schwer. So schwer, dass sie bereit ist, einen hohen Preis dafür zu zahlen und aus dem Turnier aussteigt. Da gilt es zu ergründen, woran das liegt. Ist der Raum zu eng? Ist zu wenig Luft da? Muss man jede Frage beantworten? Man kann sich auch ein paar Ausflüchte, Füllsätze zurechtlegen: "Das ist eine gute Frage" – und dann noch einen Schluck Wasser nehmen, um sich Nachdenkzeit zu verschaffen. Ich denke an Ex-Kanzler Bruno Kreisky, der sich lange Sprechpausen erlaubt hat. Sobald man merkt, dass man einen gewissen Gestaltungsspielraum hat, fühlt man sich nicht mehr so ausgeliefert.

STANDARD: Wie steht es um die Behandlungschancen bei Sozialphobien?

Stippl: Sie sind gut behandelbar, die Medizin hat viele Erfahrungen damit. Einzig die Behandlungsdauer variiert stark. Man muss sich das wie ein Zwiebelmodell vorstellen. Es kann sein, dass die Sozialphobie die äußerste Schicht auf der Symptomebene ist und dahinter viel schwerere Dinge liegen. Osaka erwähnte auch eine Depression. Wenn man deren Ursache behandelt, wird als Nebenwirkung auch die Sozialphobie besser. Für solche komplexen Dinge im Leben gibt es immer mehrere Ursachen.

STANDARD: Wie wichtig ist es, dass eine dermaßen berühmte Sportlerin offen über ihre psychischen Probleme spricht?

Stippl: Für Osaka war es wohl ein guter erster Schritt und eine Entlastung, das offen auszusprechen. Wenn man etwas lange verstecken oder herunterspielen muss, kostet das viel Energie. Aber natürlich gibt's den Sekundäreffekt: Wenn man sieht, dass eine so tüchtige, erfolgreiche Prominente sich traut, eine psychische Erkrankung zuzugeben, denken vielleicht auch andere, dass nichts dabei ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Dann ist der erste Schritt getan, dann kann man Strategien dagegen finden. (Andreas Gstaltmeyr, 2.6.2021)

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