Am Set von "Uncle Frank" (v. li.): Der libanesische Schauspieler Peter Macdissi, Regisseur und Drehbuchautor Alan Ball und der Hauptdarsteller Paul Bettany als Frank Bledsoe.

Foto: ©Amazon / Everett Collection / p

Es ist zehn Uhr früh in West Hollywood. Sonnenstrahlen leuchten in einen holzgetäfelten Raum hinein, der von Fenstern und Bäumen umgeben ist. Alan Ball sitzt an seinem Schreibtisch mit einer Tasse Kaffee. Eine Stunde war er schon auf seinem Grundstück mit den Hunden spazieren. Er ist 63 Jahre alt, hat melancholische Augen und eine tiefe Stimme. Mit dem libanesischen Schauspieler Peter Macdissi lebt er seit 20 Jahren zusammen. Als Drehbuchautor wurde Ball dafür bekannt, dass er über Themen schrieb, über die die wenigsten reden wollten. Für das Drehbuch von "American Beauty" gewann er im Jahr 2000 einen Oscar und einen Golden Globe, und für die Fernsehserie "Six Feet Under" wurde er mit sieben Emmys und drei Golden Globes ausgezeichnet. Auch die von ihm kreierte Serie "True Blood" lief sehr erfolgreich. Fehlschläge lernte er auch kennen. Der Film "Towelhead" erntete vernichtende Kritiken, und die Fernsehserie "Here and Now" wurde nach der ersten Staffel eingestellt. Sein neuer Film, das Coming-out-Drama "Uncle Frank", bei dem er auch Regie führte, ist sein persönlichster Film geworden.

STANDARD: Das Drehbuch zu Ihrem Film "Uncle Frank" schrieben Sie nach eigenen Aussagen kurz vor Ihrem Coming-out als Homosexueller. Da waren Sie schon 33. Ist das nicht recht spät für ein Coming-out?

Ball: Ja. Es war spät. Damals lebte ich in NY und besuchte meine Mutter in Marietta, Georgia. Meine Mutter raufte sich die Haare und hielt ihren Kopf fest, so als hätte sie Angst, er würde ins Weltall schießen. Nachdem sie sich von ihrem Schock erholt hatte, war das Erste, das sie zu mir sagte: "Ich mache deinen Vater dafür verantwortlich, weil ich glaube, er war auch so."

STANDARD: Ist der Film nicht nach Ihrem Vater benannt?

Ball: Ja. Mein Vater hieß Frank. Aber es gab tatsächlich einen Onkel Frank in meiner Familie, der angeblich schwul war. Über die Reaktion meiner Mutter war ich so perplex, dass ich nichts antworten konnte. Am nächsten Tag fuhren wir durch North Georgia, um Verwandte zu besuchen. Als wir an einem See vorbeifuhren, sagte sie: "Hier ertrank Sam. Er war ein sehr, sehr guter Freund deines Vaters." Es stellte sich heraus, dass mein Vater und Sam aus demselben kleinen Ort in North Carolina kamen. Als Teenager arbeiteten sie in einem CCC Camp, das Teil von Roosevelts New-Deal-Projekt war, und dort ertrank dieser Junge. Mein Vater begleitete seinen Leichnam im Zug zurück in ihre Heimatstadt. Diese Geschichte begleitete mich immer und floss irgendwie in das Drehbuch ein.

STANDARD: Ahnten Ihre Eltern, dass Sie schwul sind?

Ball: Sie hatten wohl einen Verdacht. Ich glaube, meine Schwester wusste es. Ich selbst habe es früh gemerkt. Sobald ich in die Pubertät kam, waren Männer für mich attraktiver als Frauen. Das war einfach so. In der Schule gab es Jungs, von denen die Leute dachten, sie seien schwul, sie wurden deshalb verspottet und gemobbt. Ich tat mein Bestes, um heterosexuell zu wirken, und hoffte, einen Weg zu finden, nicht schwul zu sein. Heute lache ich darüber, aber damals ...

STANDARD: Akzeptierte Ihre Mutter schließlich Ihre Homosexualität?

Ball: Es dauerte. Viele, viele Jahre später sagte sie zu mir: "Ich glaube, mit "Six Feet Under" hilfst du vielen Menschen." Das bedeutete mir alles.

STANDARD: Damit meinte sie die in der Serie "Six Feet Under" dargestellte Beziehung eines homosexuellen Paares?

Ball: Ja, zwar gab es schwule Paare im Fernsehen, doch immer nur in Nebenrollen. Auch in der Serie "Modern Family" dauerte es ewig, bis diese beiden Jungs sich überhaupt küssten – was ich irgendwie lächerlich fand. Ich wollte zeigen, dass das persönliche Leben des Familienmitglieds David genauso relevant ist wie das der anderen. Ich tat es nicht, um das Publikum aufzuklären, es war einfach interessant für mich: Wie unterscheidet sich ihre Beziehung von einer heterosexuellen Beziehung? Inwiefern ist sie dasselbe? Und meine Antwort darauf war: Beziehungen sind Beziehungen. Sie sind je nach den beteiligten Personen unterschiedlich. Für mich war Keiths und Davids Beziehung genauso wie die von Nate und Brenda, nämlich eine Schlüsselbeziehung für die Serie.

STANDARD: Homosexualität ist heute – zumindest in unseren Kulturkreisen – akzeptiert ...

Ball: Sicher. Heute schon. Nicht, als ich aufwuchs. Auch heute noch gibt es Tage, an denen ich wünschte, ich wäre hetero, verheiratet, hätte eine Familie. Ich hätte viele emotionale Turbulenzen vermieden. Denn man muss sich nicht einmal vor sich selbst zu erkennen geben. Wenn man heterosexuell ist, ist man das, was die Welt von einem erwartet, und es gibt niemanden, der sagt, so, wie man ist, ist das falsch. Denn: Es gibt immer noch Leute, die das behaupten.

STANDARD: Beängstigt Sie das?

Ball: Ja, es gibt immer noch Menschen, die schreckliche Dinge sagen, und es gibt immer noch Hassverbrechen. Wir leben in beängstigenden Zeiten. Das System kann sich nicht mehr selbst erhalten. Die Gesellschaft bricht auseinander. Bis vor kurzem regierten Kriminelle dieses Land. Es gibt eine Menge verängstigter, wütender weißer Menschen in Amerika, die gegen Diversität sind. Die Dinge ändern sich trotzdem. Und das bedroht eine Menge Leute. Vor allem die, die immer die Nutznießer dieser Gesellschaft waren.

STANDARD: Derzeit gibt es die Diskussion in Hollywood, dass nur Schwule auch Schwule spielen sollten, Lesben nur Lesben usw. Der Schauspieler Paul Bettany erzählte in Interviews von seinem sehr persönlichen Grund (die verschwiegene Homosexualität seines Vaters), die Rolle des Onkel Frank anzunehmen. Führt das nicht den Beruf des Schauspielers ad absurdum?

Ball: Das würde heißen, dass nur Anwälte auch Anwälte spielen können? Nein, ich denke, man sollte immer nur den Schauspieler wählen, der für die Rolle am besten geeignet ist. Und für diese Rolle war niemand besser als Paul. Außerdem ist Paul ein Teil des Marvel-Kinouniversums. Mit einem Star wie ihm war es leichter, Finanzierung für den Film zu bekommen.

STANDARD: Waren Sie mit den meisten Themen, über die Sie schreiben, bereits in Ihrer Kindheit und Jugend konfrontiert?

Ball: Absolut. Rassismus, Sexualität und Tod waren Themen, über die man nicht sprach, die in Wahrheit gar nicht existierten, so versteckt waren sie. Mit dem Tod oder mit Homosexualität wollte sich niemand konfrontieren, niemand wollte diese Dinge zur Kenntnis nehmen. Vor allem nicht in meiner Familie und in meinem Kulturkreis. Gefühle wurden immer schön unterdrückt, denn niemand wollte zu viel empfinden und Gefühle zeigen. Mein Vater war ein sehr introvertierter Mann. Er rauchte drei Packungen Zigaretten am Tag. Ich hatte immer das Gefühl, dass er eine verborgene Tragödie mit sich trug. Ich glaube, er litt die meiste Zeit seines Lebens. Woran kann ich nicht sagen. Er starb, als ich 19 Jahre alt war. Vielleicht hatte meine Mutter recht, und er war schwul. Das würde einiges erklären.

"Es gibt eine Menge verängstiger, wütender weißer Menschen in den Vereinigten Staaten, die gegen Diversität sind."

STANDARD: Tragödien gab es etliche in Ihrer Familie. Wie gingen Sie selbst mit diesen Schicksalsschlägen um?

Ball: Mit dreizehn hatte ich einen Autounfall. Meine ältere Schwester fuhr das Auto und kam bei dem Unfall ums Leben. Sie starb vor meinen Augen. Mit einem Schlag veränderte sich mein ganzes Leben in ein Leben davor und ein Leben danach. Und ehrlich gesagt, ich bin einige Jahre in einem Schockzustand herumgelaufen. Meine Art, mit diesem Schock umzugehen, war, dass ich überaktiv wurde. Ich spielte in einer Band, gründete eine Zeitung, spielte in Theaterstücken mit, ich tat einfach alles, um mich abzulenken. Damals begann ich mit dem Schreiben.

STANDARD: Und das sehr erfolgreich. Wie wichtig ist Ihnen Erfolg?

Ball: Tennessee Williams – einer meiner Lieblingsschriftsteller–, der zu Beginn seiner Karriere sehr erfolgreich war, bezeichnete das als "die Katastrophe des Erfolgs". "American Beauty", "Six Feet Under" und "True Blood" waren sehr erfolgreich. Es wird einem gesagt, wie großartig und brillant man ist, man gewinnt Preise – all das wird zum Maßstab des Erfolgs. Man ist den Erfolg gewohnt und will ihn weiterhin haben. Wenn ein Projekt nicht erfolgreich ist, hat man das Gefühl, man hat versagt. Die Wahrheit aber ist, dass man über diese Dinge keine Kontrolle hat. Wenn man das Glück hat, Erfolg zu haben, bedeutet das nicht unbedingt, dass die Filme, die nicht erfolgreich sind, weniger gut sind. Das zu akzeptieren, ist extrem schwierig. Ich muss mich immer wieder daran erinnern, was das einzig Wichtige ist: nämlich meine Arbeit und das, was ich damit ausdrücken möchte.

STANDARD: ... wie komplex Menschen sind?

Ball: Als Schriftsteller finde ich Charaktere, die kompliziert sind, viel interessanter. Wenn ich könnte, wäre ich selbst lieber ein einfacher Mensch. Das bin ich aber nicht. Ich bin superkompliziert, und die meisten Menschen, die mir nahe sind, sind auch ziemlich kompliziert. Ich glaube, es ist schwer, ein Mensch zu sein. Ich bewundere Leute, für die das Leben einfach ist oder die es einfach aussehen lassen. Aber ich will nicht unbedingt über sie schreiben. Ich selbst arbeite an mir, weniger kompliziert zu sein.

STANDARD: Wie machen Sie das?

Ball: Mit Meditation. Ich habe mein ganzes Leben lang mit Depressionen und Angstzuständen zu kämpfen und habe versucht, diesen Gefühlen auf den üblichen Wegen – mit Sex, Drogen oder Alkohol – zu entkommen, aber die Gefühle holten mich ein. Ich musste einfach damit aufhören, ständig wegzulaufen. Und bei Meditation geht es darum, mit diesen Gefühlen zu sitzen und sie zu empfinden. Ich meditiere seit zehn Jahren. Es ist sehr hilfreich.

STANDARD: Wie wirkt es sich auf Ihre Arbeit aus?

Ball: Man kann Trauer und Verlust nicht ändern. Denn was man verloren hat, hat man für immer verloren. Ich bin kein Experte, aber wenn man lernt, sich mit Gefühlen wie Trauer, Verlust und Trauma auseinanderzusetzen, dann werden diese Gefühle auch schriftlich übertragen und fließen auf eine Art und Weise in das Werk ein, die echt und authentisch ist. Dass ich schwul bin, bestärkte mich zu schreiben, denn meine Perspektive war immer die eines Außenseiters. (Cordula Reyer, ALBUM, 7.6.2021)