Verfassungsjurist Bernd-Christian Funk geht in seinem Gastkommentar auf Reformvorhaben und Diskussionen in der Justiz ein, die auch das Höchstgericht beschäftigen. Diese Vorschläge sollten "in der Hoffnung auf Fortschritte" weiter verfolgt werden, schreibt Funk.

Aktuelle Ereignisse gelten als Indizien dafür, dass etwas faul ist im Staate Österreich und in dessen Rechtssystem. Stichworte wie: "Ibiza"-Untersuchungsausschuss, strafrechtliche Ermittlungen gegen Politikerinnen und Politiker wie hochrangige Amtsträger, Rücktrittsaufforderungen und Rücktritte, Kritik an höchstgerichtlichen Entscheidungen, Gehässigkeiten, Attacken und Kampagnen gegen Institutionen und einzelne Personen, mahnende Worte des Staatsoberhauptes, mediale Analysen und Kommentare. Die gehäufte und anhaltende Gleichzeitigkeit des Aufbrechens beunruhigender Entwicklungen in Staat, Recht und Gesellschaft mag bedrohlich sein, sie ist aber als Zeichen und Folge vertiefender Konflikte nicht überraschend.

Nicht nur die Medien interessieren sich für ihn und seine Chats: Christian Pilnacek, der suspendierte Sektionschef im Justizministerium.
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Reihen von Assoziationen drängen sich auf, allen voran ein gleichermaßen bekannter wie trefflicher Satz des deutschen Rechtsphilosophen Ernst-Wolfgang Böckenförde: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Die Erkenntnis trifft für Rechtsordnungen insgesamt zu. Um dennoch Recht setzen und anwenden zu können, bedarf es eines Gleichgewichts im praktischen "kommunikativen Handeln" (Philosoph Jürgen Habermas) zur alltäglichen Bewältigung des Dilemmas zwischen Wirksamkeit und Akzeptanz. Zwei Dinge lassen sich beobachten: "Es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren" (Kommunikationswissenschafter Paul Watzlawick) und "Aufrichtigkeit kann nicht kommuniziert werden" (Soziologe Niklas Luhmann).

"Kleine" Reformen

Die Ambivalenzen und Widersprüche waren und sind stets vorhanden. Sie sind aber nicht immer in gleicher Weise wirksam und werden nicht immer in gleichem Sinne wahrgenommen. Was lässt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht zu den aktuellen Entwicklungen sagen? Zu den zahlreichen Brennpunkten der Probleme gibt es Vorschläge und Initiativen, die nun in der Hoffnung auf Fortschritte weiterhin verfolgt werden sollten. Sie alle betreffen bereits angedachte und diskursiv bearbeitete Reformen auf rechtlicher Ebene. Noch steht die Staatsanwaltschaft unter ministerieller Leitungsbefugnis. Eine "kleine" Reform der verfassungsrechtlichen Grundlagen hat im Jahre 2008 den Ausblick auf Unabhängigkeit dieser Institution eröffnet; sie ist aber auf halbem Wege stehen geblieben: Gemäß Artikel 90a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) gelten Staatsanwälte nunmehr als "Organe der ordentlichen Gerichtsbarkeit".

Im gerichtlichen Strafverfahren nehmen sie Ermittlungs- und Anklagefunktionen wahr. Zwar können durch das Bundesgesetz die näheren Regelungen über ihre Bindung an Weisungen der ihnen vorgesetzten Organe getroffen werden. Eine grundlegende institutionelle Reform im Sinne einer Verselbstständigung als "Bundesstaatsanwaltschaft" ohne ministerielle Leitung ist ohne Änderung des B-VG jedoch nicht möglich. Eine solche Reform könnte dazu beitragen, dass die Anklagebehörden aus dem Fokus (partei)politischer Kritik herausgenommen und in ihrer Arbeit von Polemik freigehalten werden. Dem Grunde nach zeichnet sich eine Einigung der maßgebenden Akteure in der Regierung und im Parlament ab. Offen sind noch die Bestellung und die Verantwortlichkeit der neu zu schaffenden Behörde.

Weitreichend und tiefgreifend sind auch die Aspekte der Transparenz von Entscheidungsprozessen sowie des Zuganges und der Verbreitung von Informationen. Hier besteht ein äußerst komplexer Verbund an Fragen der Amtsverschwiegenheit, des Datenschutzes, der aktiven und passiven Informationsfreiheit, der Möglichkeiten und des Vorgehens parlamentarischer Untersuchungsausschüsse. Ein besonders heikles und kontroversiell diskutiertes Projekt firmiert unter dem Titel "dissenting opinion" bei Erkenntnissen des Verfassungsgerichtshofs (VfGH), namentlich in den Bereichen der Normenkontrolle und des Grundrechtsschutzes.

Abweichende Auffassung

Abweichende Auffassungen entscheidungsbeteiligter Richterinnen und Richter können sowohl das Ergebnis als auch die Begründung einzelner Entscheidungen betreffen. In diesem Sinne ist zwischen "dissenting" und "concurring opinion" zu unterscheiden. Erstere widerspricht der mehrheitlich getroffenen Sachentscheidung, Letztere teilt diese Entscheidung, jedoch mit einer anderen Begründung. Kombinationen und Abstufungen sind möglich.

Der Diskussion sei ein Aspekt hinzugefügt, der mit der methodischen Positionierung des VfGH zu tun hat. Grundsätzlich betont der Gerichtshof, dass er die Verfassung auszulegen, aber nicht richterrechtlich fortzuentwickeln habe: In seinem mehrfach deklarierten Selbstverständnis wendet der VfGH geltendes Recht an, er erschafft es aber nicht neu. Das Bekenntnis zu dieser positivistischen Position bildet ein tragendes Element der vom Gerichtshof mit Recht beanspruchten "judicial self restraint" (der richterlichen Selbstbeschränkung) als Beitrag zur verbindlichen Ordnung der Trennung der Staatsfunktionen, speziell im Verhältnis von Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit.

Formelhafte Stehsätze

So berechtigt und notwendig die Betonung dieser positivistischen Doktrin sein mag, so sehr gerät sie tendenziell in Widerspruch zu Entscheidungslagen, deren Bewältigung – wie immer sie im Ergebnis ausfällt – ein hohes Maß an richterlicher Rechtsentwicklung erfordert. An neueren Entscheidungen seien – ohne Anspruch auf Vollständigkeit der Auflistung – jene zum Kopftuchverbot, zur Ehe für alle oder zur Beihilfe zum Suizid genannt. Es gibt Anzeichen für eine behutsame Änderung im Wording der Self-restraint-Doktrin, ohne dass diese aufgegeben wird. Noch haben traditionelle formelhafte Stehsätze in den Begründungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen ihren festen Platz. Sie sind auch nicht schlechthin verzichtbar. Je mehr sie aber durch differenzierte Abwägungen ohne methodische Berührungsscheu ergänzt werden, desto leichter wird ein Verzicht auf veröffentlichten Dissens argumentierbar sein. (Bernd-Christian Funk, 4.6.2021)