"Da ist ein Auto hier auf der Straße, es folgt mir überallhin nach." Die Sprachnachricht, bei der das Zittern in der Stimme von Idit Silman deutlich zu hören ist, war an die Whatsapp-Gruppe ihrer Parteifreunde gerichtet, aber sie fand ihren Weg ins Fernsehen.

Benjamin Netanjahu denkt nicht ans Aufgeben.

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Die Abgeordnete der Rechtspartei Jamina ist nicht die einzige israelische Politikerin, die um ihr Leben und die Sicherheit ihrer Kinder bangen muss, weil sie einen Regierungswechsel unterstützt. Von sechs Jamina-Abgeordneten (der siebte hat die Parteilinie verlassen) stehen vier unter Polizeischutz, so auch andere Vertreter des Anti-Netanjahu-Blocks. Noch ist unklar, wann die neue Koalition im Parlament vereidigt werden kann. Fest steht nur: Mit jedem Tag steigt der Druck.

In einem ungewöhnlichen Appell richtete sich der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Nadav Argaman, an die Öffentlichkeit. Die enorme Zunahme an Gewaltaufrufen in den sozialen Medien mache ihm Sorge, sagte Argaman und deutete an, was andere offen aussprechen: Erinnerungen an die Ermordung von Regierungschef Yitzhak Rabin 1995 werden wach.

Auch damals ging dem Attentat massive Hetze voraus. Ein "Stimmendieb" sei Rabin, hatte der damalige Oppositionspolitiker Benjamin Netanjahu geschimpft. Ein Verräter am jüdischen Volk sei er, hetzten Rabbiner. Der junge Rechtsextreme Jigal Amir sah sich zur Tat legitimiert und führte sie aus.

"Verrat"

Auch diesmal, so wird befürchtet, könnte sich jemand berufen fühlen, Israel vor "Verrat" zu bewahren. Auf Facebook verglich Netanjahu die aktuellen Ereignisse mit einem biblischen Verrat am Volk Israel durch "Spione". Und auch heute sind es Rabbiner, die Öl ins Feuer gießen: Sechs Nationalreligiöse riefen dazu auf, "alles zu unternehmen", um die Regierungsbildung des Anti-Netanjahu-Blocks zu verhindern.

Die acht Parteien dieser Allianz hatten sich Mittwochabend knapp vor dem Ablauf der gesetzlichen Frist auf die Bildung einer Koalition geeinigt. Sie verfügt aber nur über eine hauchdünne Mehrheit von 61 der 120 Sitze im Parlament.

Für Donnerstag planen Rechtsextreme einen nationalistischen Flaggenmarsch quer durch die Altstadt Jerusalems, der auch durch das muslimische Viertel führen soll. Pläne für einen solchen Marsch hatten vor einem Monat die ohnedies angespannte Lage zusätzlich angeheizt. Verteidigungsminister Benny Gantz, der auch der geplanten neuen Regierung als Minister angehören soll, will den Marsch aus Sicherheitsgründen untersagen.

Festnahme

Die Entscheidung liegt aber bei Polizeiminister Amir Ohana von Netanjahus Likud-Partei. Im Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah, einem Brennpunkt der jüngsten Eskalation, droht die Lage ebenfalls zu kippen. Die israelische Polizei nahm Samstagabend eine Al-Jazeera-Journalistin fest und ließ sie erst nach stundenlanger Vernehmung frei. Am Sonntag drangen Sicherheitskräfte in das Haus von einer der prominenten Sheikh-Jarrah-Aktivistinnen, Muna El-Kurdi, ein und nahmen sie fest. Die Festnahme könnte eine neue Welle von palästinensischen Protesten und Gewalt anfachen, die USA zeigten sich in Sorge.

Die geplante Koalition des Anti-Netanjahu-Lagers strebt indes eine rasche Vereidigung an. Der Termin dafür soll am Montag festgelegt werden. Netanjahu gab sich am Sonntag siegessicher: Selbst für den Fall, dass "diese gefährliche, betrügerische Regierung" zustande kommen sollte, "werden wir sie sehr bald wieder zu Fall bringen". (Maria Sterkl, 6.6.2021)