Hommage an das groteske Kino: In Norbert Pfaffenbichlers Monstrositäten-Parcours "2552.01" tragen alle Figuren Masken.

Foto: Crossing Europe

Standing Ovations sind bei Preisverleihungen nicht ungewöhnlich, beim Linzer Crossing Europe galten sie diesmal jedoch keinem Film, sondern der scheidenden Festivaldirektorin Christine Dollhofer. Sentimentalität ließ diese jedoch keine aufkommen, in ihrer einnehmenden Art hatte sie das Publikum gleich wieder im Griff – und sich selbst sowieso. Von 2004 an hatte Dollhofer mit ihrer Filmauswahl ihre Expertise über das europäische Kino mit dem Publikum geteilt und dabei Talente noch vor ihrem großen Durchbruch aufgespürt – vom Italiener Matteo Garrone bis zur britischen Regisseurin Joanna Hogg. Ihre Nachfolge ist offen.

Der slowakische Filmemacher Ivan Ostrochovský wurde dieses Jahr für ein Werk gewürdigt, das sich von Dokumentarfilm immer mehr zum Spielfilm verschoben hat. In Servants kehrt er in die Tschechoslowakei des Jahres 1980 zurück, wo sich in einem Priesterseminar Widerstand gegen das Regime regt und die Reaktion nicht lange ausbleibt. Aus den Schwarz-Weiß-Aufnahmen kriecht eine Atmosphäre der Angst hervor. Ostrochovský legt es allerdings nicht auf ein Widerstandsdrama an, sondern führt beklemmend vor, wie die Bespitzelung durch die Staatspolizei alle Beziehungen vergiftet.

Wie ein Endspiel von Beckett

Diesen Blick zurück auf ein totalitäres Regime konnte man durch Vitaly Manskys außergewöhnlichen Dokumentarfilm Gorbachev. Heaven noch erweitern. Mansky ist bereits durch mehrere Filme über Putin bekannt, jetzt stattet er dem letzten sowjetischen Generalsekretär, der sich nur noch beschwerlich an einem Rollator aufrecht hält, einen Besuch ab. In Gorbachev ist das, was nicht gesagt wird, mindestens genauso wichtig wie das, was der abwartende, verträumt wirkende Altpolitiker zu teilen gewillt ist. Der Film wirkt wie ein Endspiel, das Beckett nicht besser erfinden konnte. Gorbatschow zitiert Gedichte, singt Kampflieder und gibt dann doch preis, mit welch bangem Gefühl er in den inneren Zirkel der Partei vordrang. Und trotz allem wirkt er nun bemüht, als einzig wahrer Sozialist sein Erbe zu wahren.

Vitaly Manskys Gorbatschow-Film "Gorbachev. Heaven".
Foto: Crossing europe

Für viele Filmemacher war es das erste Festival vor Publikum seit langem, was dem Treiben in Linz besondere Stimmung verlieh, auch wenn nächtens Ausgehmöglichkeiten fehlten. Man traf sich stattdessen zum Austausch auf dem OK-Platz. Besonders stark war in diesem Jahr das dokumentarische Aufgebot: Helena Třeštikovás zartfühlendes Langzeitporträt Anny über eine Frau, die sich nur mit Prostitution ihr Dasein sichern kann, traf auf Alina Gorlovas Film This Rain Will Never Stop, der anhand der Familie eines jungen Kurden darüber reflektiert, wie Kriegszenarien, vom Donbass bis nach Syrien, das Leben durchpflügen. Oder Paris Calligrammes von der arrivierten deutschen Filmemacherin Ulrike Ottinger: Sie blickt zurück auf ihre Zeit in Paris in den 1960ern und verknüpft dabei Lieblingsorte und Künstlermilieus, die sie nachhaltig geprägt haben.

Von Dada bis Algerien

Beim Sehen des Films bekommt man das Gefühl, durch ein überbordendes, aber wohlsortiertes Lexikon der Kulturgeschichte zu blättern, das von den Dadaisten und der Liebe zu Büchern über politische Bewusstseinsbildung durch den Algerienkrieg bis ins transgressive Pariser Nachtleben führt. Letztlich ist es dann aber vor allem der unersättliche Blick einer Künstlerin, die nie ihr Staunen über den Reichtum der Welt verloren hat, der einen am meisten fasziniert.

Ulrike Ottinger im Selbstporträt in "Paris Calligrammes".
Foto: Crossing Europe

In eine imaginäre Unterwelt führt hingegen Norbert Pfaffenbichlers 2551.01, der verdient mit dem Local-Artist-Award ausgezeichnet wurde. Eine Ode an den Stummfilm, insbesondere Chaplins The Kid, zugleich eine Hommage an das Monstrositätenkabinett des Kinos, erzählt der Film von der Allianz zweier Freaks. Alle Figuren sind maskiert – auf prunkvollste Weise! Bei aller Lust am Ekel geht es dann aber doch mehr um die Liebe zum Grotesken; um eine Poesie, die aus dem Trash entsteht. (Dominik Kamalzadeh, 7.6.2021)