Gegenüber liegt der Museumszwilling, das Kunsthistorische. Konkurrenz zwischen den Museen gibt es nicht.

Foto: Regine Hendrich

Wie kommt man aufs Dach vom Naturhistorischen? Man beginnt in der Prunk-Kuppelhalle des Baus von Gottfried Semper und Carl von Hasenauer (Fertigstellung 1881), vorbei am Porträt von Kaiser Franz Stephan I. von Lothringen – Sie wissen schon, der Mann von Maria Theresia. Er erwarb seinerzeit die Naturaliensammlung von Johann Ritter von Baillou, sie wurde zum Grundstock des "Hof-Naturalien-Cabinets" in der Hofburg, dem Vorläufer des jetzigen Museums. Unter dem Porträt wartet links ein ausgestopftes kaiserliches Schoßhündchen, immer noch seidig und freundlich, der Zwergspaniel, und wenn er nicht selbst auf dem Arm der Kaiserin saß, dann zumindest ein naher Verwandter, daneben jene Präparate der Sammlung, die auch auf dem Bild verewigt sind, ein Einstieg in die Metaebene des Museums, auch wenn der Begriff "Museum eines Museums" hier nicht so gern gehört wird.

Eine kleine Tür führt in die obere Kuppelhalle, hier fesselt auch bei größter Höhenangst der legendäre Darwin-Fries von Johannes Benk, links ein Affe, der Darwins Buch von der Abstammung des Menschen in den Pfoten hält und bestimmt darauf verweist, in der Mitte ein Menschenkind, rechts von ihm ein weiteres Äffchen, das ihm einen Spiegel vorhält, das Menschlein hält sich erschüttert von der Erkenntnis die Augen zu.

Wer auf das Dach will, muss durch den Schädelgang.
Foto: Regine Hendrich

Vorbei am Oberkiefer eines Finnwals (schräge Ortsangaben macht man hier) führt rechts eine Tür ins Depot, in den Schädelgang. Fein säuberlich beschriftet stapeln sich hier Schädel bis zur Decke. Noch ein paar Schritte weiter, noch mehr Depotschränke mit für Uneingeweihte unverständlichen Beschriftungen, "Franzhausen Becken, Geschenk Dr. Deiml, Schädel & Knochen ohne Nr.", die Treppen werden kleiner, kein Prunk mehr hier, nur Forschungsarbeit, vorbei an wuchernden Topfpflanzen und an der Teeküche, dann heißt es "Achtung, Kopf", diese Tür ist die kleinste von allen, und natürlich haut man sich trotz Warnung den Schädel beinahe an, und dann steht man tatsächlich auf dem Dach des Naturhistorischen Museums. Gegenüber liegt der omnipräsente Museumszwilling des Naturhistorischen, aber nein, es gibt keine Konkurrenz, sagt man mir.

Achtung, Kopf!

Aber zurück aufs Dach: Urania, Gaia, Luft und Erde, Hephaistos und Poseidon, Wasser und Feuer, blicken allegorisch sinnend über Wien. Am Ring stehen an der Brüstung Figuren von diversen Forschern und Entdeckern. Der Blick öffnet sich aufs Rathaus, im Hintergrund die sanften Wellen des Kahlenbergs, gegenüber die Rosen des Burggartens und der Blick auf den Volksgarten-Pavillon samt seinem eleganten Mid-Century-Party-Stil, er ist dem Ende des Kaiserreichs zu verdanken, er könnte hier nicht stehen, wäre die Neue Burg so fertiggebaut worden, wie ursprünglich geplant.

Was für ein Blick! Die allegorischen Figuren von Urania, Gaia, Hephaistos und Poseidon schauen vom Naturhistorischen Museum auf Wien.
Foto: Regine Hendrich

Noch ein "Achtung, Kopf!", und es geht zurück in die spektakuläre Sammlung. Alle suchen und finden hier etwas anderes: Kleine Kinder schätzen kreischend den wohligen Schauer beim periodisch schnaubenden künstlichen Dino. Der geheime Hit bei den Kids: der versteinerte Dinokot. Internationale Gäste besuchen die Venus von Willendorf, immerhin 29.000 Jahre alt, entdeckt seinerzeit beim Autobahnbau, auch 2016 wurden Mammutstoßzähne unter der zukünftigen Nordautobahn entdeckt.

Es sind jedenfalls nicht nur die prächtigen ausgestopften Raubkatzen, Haie, Affen, Bären, Schlangen und Vögel, die die Menschen anlocken, die Säle voller schillernder Käfer und Schmetterlinge. Die älteste Meteoritensammlung der Welt gibt es ebenfalls hier, es sammelt sich eben grundsätzlich leichter, wenn man Kaiser ist, auch das Budget ist größer. Heutzutage gibt es unter Museen immerhin eine rege Tauschpolitik. Es wird auch zurückgegeben, sprich, restituiert: aktuell eine Kiste mit Conchylien, Teil der Molluskensammlung, die 1941 dem Stift Göttweig von seiner NS-Zwangsverwaltung abgenommen wurde. Einer ganz anderen im Naturhistorischen Museum Wien aufgetauchten Kiste widmet sich die Ausstellung "Der kalte Blick. Letzte Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów" in der Hofburg, basierend auf den Fotos zweier Anthropologinnen, die 1942 "typische Ostjuden" fotografierten.

Arsen und Präparatoren

Wer schaut, ordnet ein, sammelt was oder wen, interpretiert, beherrscht? Auch darum geht es immer.

Foto: Regine Hendrich

So ist das Naturhistorische Museum natürlich auch ein Museum von Forschungs- und Sammlungspolitiken. Rückwirkend fast bizarr wirkt etwa die ab 1817 ganze 18 Jahre lang andauernde österreichische Brasilien-Expedition, die unfassbare Mengen an Säugetieren, Vögeln, Insekten und anderes Getier lieferte, die Auseinandersetzung mit den ethnografischen Objekten des Zoologen Johann Natterer, die sich vorrangig im Weltmuseum befinden, ist auf vielen Ebenen noch nicht abgeschlossen. Auch bei Fahrten der Marine wurden Wunschlisten mitgegeben oder gar Forscher mitgeschickt. Viele Tiere wurden bereits auf den Expeditionen präpariert. Bis zu acht Präparatoren arbeiten heute hier, ein Lehrberuf, immer noch. Die alten Präparate sind oft giftig, Arsen nützte man als Schutz vor Schädlingen, größter Feind des Museumsbetriebs sind auch heute noch Museumskäfer und Motten. Natürlich gibt es eine eigene Tischlerei sowie Menschen, die an Lebendrekonstruktionen von ausgestorbenen Tieren arbeiten, und ja, der Wiener Dodo ist schöner als der in London.

Was für Menschen arbeiten hier? "Enthusiasten", erklärt man mir, das muss man auch sein, wenn man beispielsweise in neun Jahren 500 Wanzentypen belegt hat oder experimentelle Archäologie betreibt. Etwas gar zu enthusiastisch war man früher gelegentlich, weil man den eigenen Nachnamen so gern in lateinischen Gattungsnamen sehen wollte, das führte später oft zu Revisionen.

Es geht wieder aufs Dach

Das Café im Kuppelsaal
Foto: Regine Hendrich

Es ist jedenfalls unmöglich, diesem Gebäude mit einem einzigen Besuch gerecht zu werden, schließlich gibt es da noch die Urgeschichte und die Römer und die Blaschka-Glasmodelle von Meerestieren und Pflanzen, das Bergwerk Hallstatt spuckt seit über 100 Jahren seine im Berg konservierten Schätze aus. Die größte fossile Schildkröte der Welt wartet. Neuere Ausstellungen widmeten sich dem Artenschutz (was beim Zoll bei Kontrollen noch lebt, landet in Schönbrunn, der Rest hier), aktuell feiert der "Meteorit von Hraschina" hier sein 270. Fall-Jubiläum (Happy Birthday!), und die Ausstellung "Ablaufdatum" stellt sich die Frage, wie aus Lebensmitteln Müll wird. Ab Oktober darf man laut jetzigem Stand der Dinge wieder mit Führung aufs Dach (und abends im Museum Muscheln essen) und die großartige Aussicht nicht nur auf die Jahrmillionen, sondern auch auf die Stadt genießen. (Julia Pühringer, 8.6.2021)