Man könnte ganze Bibliotheken aus den Büchern zusammenstellen, die die vielfältigen psychischen und physischen Foltermethoden der Repression beschreiben, mit denen Stalin und seine osteuropäischen Statthalter ganze Serien von absurden Geständnissen der Angeklagten bei den berüchtigten Schauprozessen in den Dreißigerjahren in Moskau und zehn Jahre später in Budapest, Prag und Sofia erzwungen haben.

Für die Zeitgenossen und erst recht für die direkt oder indirekt Betroffenen galt Friedrich Nietzsches Feststellung in Zur Genealogie der Moral: "Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt. Nur was nicht aufhört, wehzutun, bleibt im Gedächtnis."

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Roman Protassewitsch ist einer der bekanntesten Aktivisten gegen das Lukaschenko-Regime.
Foto: AP / ONT Channel

Erschütternde Szene

Da ich selbst wegen meines Nahverhältnisses zu einem Hauptangeklagten des Rajk-Schauprozesses 1949 in Budapest, wenn auch erst 1953, als dreiundzwanzigjähriger Journalist verhaftet und interniert wurde, geht mir die am vergangenen Donnerstag ausgestrahlte erschütternde Szene im belarussischen Staatssender nicht aus dem Kopf: Roman Protassewitsch, der 26-jährige Journalist, Blogger und Fotograf, einer der bekanntesten Aktivisten gegen das Lukaschenko-Regime, bekennt detailliert seine "Schuld"; er habe sogar "Hochachtung ohne Vorbehalt" vor demselben Diktator Alexander Lukaschenko, der ihn am Pfingstsonntag in Minsk aus einem umgeleiteten Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius festnehmen und ihn durch seine Büttel zu völlig unglaubwürdigen Selbstbezichtigungen und zur Wiederholung der Propagandaphrasen des Lukaschenko-Regimes zwingen ließ.

Am Ende des anderthalb Stunden langen "Fernsehinterviews" bricht Protassewitsch zusammen, schluchzt und hält sich minutenlang die Hände vors Gesicht: Er wolle nur alles gutmachen und ein normales Leben führen.

Putins Unterstützung

Wie so viele Schicksalsgenossen vor ihm wäre wohl auch ich damals wie der junge belarussische Journalist zu allem bereit gewesen, wenn man mich gefoltert hätte. Dem Diktator, der 27 Jahre die Macht genießt, länger, als Protassewitsch auf der Welt ist, gelang es nach der brutalen Niederschlagung der friedlichen Massenproteste im vergangenen Sommer mit mehr als 400 politischen Gefangenen, mit der Rückendeckung durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.

Im Rausch dieses Erfolges ist der 66-jährige Tyrann allerdings dem Größenwahn verfallen und mit der unter dem Vorwand einer Bombendrohung erzwungenen Zwischenlandung eines Passagierflugzeuges in Minsk zwischen zwei EU-Staaten zu weit gegangen. Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki sprach sogar "von einem Akt des Staatsterrorismus".

Ein Warnzeichen

Vor der Drehung der angelaufenen Sanktionsspirale der EU beeilte sich Putin bei einem Freundschaftsbesuch Lukaschenkos, seine volle Solidarität mit dem von Russland wirtschaftlich völlig abhängigen belarussischen Regime zu bekunden. Das harte Gerichtsurteil gegen den Systemkritiker Alexej Nawalny, die totale Zerstörung seines oppositionellen Netzwerkes, die Straffung der Zügel im Bildungsbereich und der wachsende Einfluss der Geheimdienstler sind Warnzeichen: Auch Putins autoritärer Staat streift seine Samthandschuhe ab. (Paul Lendvai, 8.6.2021)