Ökonom Mahdi Ghodsi geht in seinem Gastbeitrag auf die wirtschaftlich wie gesellschaftspolitisch angespannte Situation im Iran ein. Für ihn ist klar, dass das Land die "Aufhebung der Wirtschaftssanktionen und damit einen Erfolg bei den Wiener Atomverhandlungen" braucht.

Einmal mehr blickt die Welt gebannt nach Wien. Neuerlich verhandeln die Großmächte in der Donaumetropole über die Zukunft des 2015 abgeschlossenen Atomabkommens mit dem Iran. Ein diplomatischer Kraftakt soll die Islamische Republik von der Bombe fernhalten und die USA zurück ins Boot holen. Der ehemalige US-Präsident Donald Trump hatte den historischen Vertrag unter dem sperrigen Titel Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) einseitig aufgekündigt, woraufhin auch der Iran seine Verpflichtungen nicht mehr vollständig erfüllte. Nachfolger Joe Biden strebt eine Rückkehr zum JCPOA an. Dem Vernehmen nach machen die Verhandlungen Fortschritte.

Irans Wirtschaft geht es schlecht. Immer mehr Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze.
Foto: AFP / Atta Kenare

Es geht um viel: Die USA und der Iran schrammten erst vergangenes Jahr nur knapp an einem Krieg vorbei. Auf dem Spiel steht allerdings auch das ökonomische Überleben der Islamischen Republik. Die Führung in Teheran steht mit dem Rücken zur Wand. Ohne die Aufhebung der beißenden Wirtschafts- und Finanzsanktionen droht der wirtschaftliche Kollaps. Insofern überraschte die Bereitschaft des Regimes zu neuen Verhandlungen keineswegs.

Trumps Politik des "maximalen Drucks" hat die iranische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. 2019 sackte das Bruttoinlandsprodukt um sieben Prozent ab, nachdem es bereits 2018 um zwei Prozent geschrumpft war. Die ökonomischen Schäden des Corona-Jahres 2020 belaufen sich auf weitere zwei Prozent BIP-Minus.

Leere Staatskasse

Die Währung Rial stürzte bis Dezember 2020 gegenüber dem US-Dollar um kolossale 450 Prozent ab. Aufgrund der harten US-Sanktionen gegen iranische Ölausfuhren schrumpften die Exporte 2019 insgesamt um zwei Drittel auf gerade noch 31 Milliarden US-Dollar. Im Jahr davor lukrierte der Iran noch fast 90 Milliarden US-Dollar aus dem Export. Dadurch sind auch die Devisenreserven geschmolzen. Zudem wurden bereits lukrierte Erlöse in anderen Ländern eingefroren, was die Devisenknappheit verschärfte.

Wenig überraschend kollabierten damit auch die Importe. Führte der Iran 2017 noch Waren im Wert von fast 52 Milliarden US-Dollar ein, waren es 2019 Güter für weniger als 29 Milliarden. Zudem konnte das von der Pandemie schwer getroffene Land am Weltmarkt kaum Corona-Impfstoff und medizinische Ausrüstung kaufen. Im Außenhandel führte die Devisenknappheit zur Etablierung ineffizienter Tauschgeschäfte. Der starke Rückgang der Importe von Maschinen und Investitionsgütern befeuerte die seit 2018 andauernde Rezession zusätzlich.

Entsprechend leer ist die Staatskasse. Im laufenden Kalenderjahr sanken die budgetierten Ausgaben trotz Corona-Schocks real um sieben Prozent. Für eine antizyklische Wirtschaftspolitik zur Stabilisierung der Situation fehlen schlicht die Mittel. Vor dem Hintergrund wegbrechender Öl-Einnahmen und der Blockade von Auslandskrediten blieb der Regierung von Präsident Hassan Rohani nichts anderes übrig, als das Defizit über die Notenpresse zu finanzieren. Mit dem Ergebnis, dass die Inflation steil nach oben schoss.

Vor dem iranischen Neujahrsfest 2019 und 2021 verzeichnete der Iran im Jahresvergleich eine Teuerung von über 50 Prozent. Sollte es bei den Atomverhandlungen keine Einigung geben, wird die Regierung aus der Not heraus wohl erneut die Notenpresse anwerfen. Dann droht eine Hyperinflation mit unabsehbaren wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen.

Bereits heute sind breite Bevölkerungsschichten verarmt. Zwischen März 2018 und März 2020 stieg der Anteil jener Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, um elf Prozent. Immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu blutigen Unruhen, die sich gegen die soziale Misere richteten. Im Dezember 2017 und im Jänner 2018 löste ein sprunghafter Anstieg der Lebensmittelpreise landesweite Proteste aus.

Viel zu gewinnen

Im November 2019 führten steigende Benzinpreise wegen gekürzter Treibstoffsubventionen zu massiven Unruhen im ganzen Land. Bei deren brutaler Niederschlagung starben laut Amnesty International rund 300 Menschen. Auch diesen Februar kam es in der verarmten Provinz Belutschistan erneut zu Ausschreitungen. Spitzt sich die wirtschaftliche Lage weiter zu, könnten sich die sporadischen Proteste schnell zum Volksaufstand auswachsen. Ein solches Szenario möchte das Regime um jeden Preis verhindern.

Es braucht deshalb die Aufhebung der Wirtschaftssanktionen und damit einen Erfolg bei den Wiener Atomverhandlungen wie die Luft zum Atmen. Ein erfolgreicher Abschluss soll darüber hinaus der absehbar geringen Beteiligung bei den Präsidentschaftswahlen im Juni entgegenwirken und dem Urnengang Legitimität verleihen.

Der Iran hätte bei einer Aufhebung der meisten Sanktionen in jedem Fall viel zu gewinnen. Ein dringend benötigter Corona-Notkredit über fünf Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfonds könnte endlich bewilligt werden. Mehr Impfstoff und medizinische Geräte wären dringend nötig, um der grassierenden Pandemie Herr zu werden. Die Wiederaufnahme der Ölexporte im Umfang von 2,5 Millionen Fass pro Tag wie zuletzt 2017 sollte die schwere Rezession beenden. Eine nachhaltige Entwicklung wird trotzdem nur über die Diversifikation der Wirtschaft und den Aufbau wettbewerbsfähiger Strukturen möglich sein. Die dafür benötigten ausländischen Direktinvestitionen setzen aber zwei Dinge voraus: ein stärkeres Engagement der EU und die wirtschaftliche Öffnung gegenüber dem Rest der Welt. (Mahdi Ghodsi, 8.6.2021)