Das Archaische, das Monumentale, in der Reduktion und Konzentration auf das Wesentliche, verleihen Sebastião Salgados Bildkosmos eine nahezu sakrale Aura. Normalerweise täuscht die pittoreske Schönheit fotografischer Dokumente über die Zerstörung natürlicher Biodiversität hinweg. Gegensätzliches, ohne aber die Ästhetik zu vernachlässigen, ist die Intention des vielfach – unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels – prämierten Fotokünstlers. Er vermittelt die humanitäre Verantwortung des Menschen für den Planeten Erde.
Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Die wahre Ernte meines täglichen Lebens ist etwas so Unfassliches wie das Morgen- und Abendrot", meinte einst Henry David Thoreau (1817–1862). Der Schriftsteller und Naturliebhaber lebte jahrelang als Eremit in den unberührten Wäldern von Massachusetts. Schon damals, Mitte des 19. Jahrhunderts, kam er zur Erkenntnis, dass der Mensch umso reicher ist, je mehr Dinge er sein und hinter sich lassen kann. Heute, in einer Zeit, die fast alles kapitalistisch purem Utilitarismus unterordnet, in einer Ära immenser Intensität, Oberflächlichkeit, schnelllebiger Reizüberflutung, sehnt man sich nach etwas Ursprünglichem, strebt nach ehrlicher Authentizität.

"Raus in die Natur!", lautet denn auch der Ruf, dem unsereins dieser Tage immer öfter folgt. Sobald die Tage länger und die Nächte kürzer werden, die Temperaturen steigen, Sonnenlicht und Wärme die Lebensgeister zum Leben erwecken, sucht man gerne nach dem sprichwörtlichen Paradies. Dem ganz persönlichen. Positionen und Perspektiven des Glücks sind es, die seit jeher die Welt bestimmt haben. In Wahrheit geht es in den meisten Momenten des Menschseins darum, das Universum, die Natur, das Wesen des Menschen, das Sein per se in Form unkultivierter, unberührter, natürlicher Refugien zu erkunden, zu erfahren, zu spüren, greifbar und begreifbar zu machen. Lichtdurchflutet und naturbelassen, sind die Regenwälder des Amazonas ein letzter "Garten Eden". Doch auch dieses Paradies droht durch Abholzung, durch rücksichtslose Ausbeutung und Profitgier verloren zu gehen. "Gib mir eine Wildheit, die von keiner Zivilisation ertragen werden kann", umschrieb Thoreau die Herausforderung. Sein Leben als Eremit in einer Hütte am Walden Pond in Massachusetts mutiert heute zum Symbol der Entschleunigung, der Reduktion auf das Wesentliche.

Hymnus an die Schöpfung

Seit Jahrzehnten bereiste Fotograf Sebastião Salgado das brasilianische Amazonasgebiet. Während seiner zahlreichen Expeditionen in die Urwälder Südamerikas fotografierte er einerseits die unvergleichliche Schönheit dieser einzigartigen Region: den Regenwald, die Flüsse, die Berge und die Menschen, die dort leben – "ein unersetzlicher Schatz der Menschheit", wie er in tiefer Demut bekennt. Gleichzeitig dokumentierte er aber auch die grassierende Zerstörung des einzigartigen Naturreservats, des Perpetuum mobile, welches die Regenwälder in ihrer Biodiversität darstellen, die Bedrohung dieses Refugiums zahlreicher indigener, in vollkommener Abgeschiedenheit und Isolation lebender Völker.

Salgado dokumentierte den Alltag vieler indigener Völker in ihrem von Rodung bedrohten Lebensraum.
Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Salgado besuchte allein in den letzten fünf Jahren über ein Dutzend indigene Völker, die in winzigen Gemeinschaften über den größten tropischen Regenwald der Welt verstreut leben. In seinen eindringlichen, von Intimität, von Nähe und Respekt beseelten Reportagen dokumentierte er den Alltag der Yanomami, der Asháninka, der Yawanawá, der Suruwahá, der Zo’é, der Kuikuro, der Waurá, der Kamayurá, der Korubo, der Marubo, der Awá und der Macuxi– ihre herzlichen Familienbande, ihre Jagd und ihren Fischfang, ihren Alltag, die Art und Weise, wie sie Mahlzeiten zubereiten und teilen, ihre Spiritualität, ihre Kunstfertigkeit, Gesichter und Körper zu bemalen, die Bedeutung ihrer Schamanen, ihrer Tänze und Rituale.

Mittels seiner auf das Wesentlichste reduzierten kargen, archaischen Schwarz-Weiß-Serien zeigt Salgado, in welchem Gleichmut, in welcher Solidarität die Menschen in und mit der Natur im Einklang leben. Ohne je voyeuristisch zu sein, präsentiert der vom Humanismus geprägte Autodidakt die absolute Natürlichkeit und Abgeschiedenheit der oft nackt lebenden Ureinwohner.

Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Das Amazonasgebiet erstreckt sich über neun südamerikanische Länder, wobei sich mehr als 60 Prozent des tropischen Regenwalds in Brasilien befinden. Im Jahr 1500, als portugiesische Seefahrer erstmals den südamerikanischen Kontinent betraten, lebten dort rund fünf Millionen Menschen. Heute leben auf dem Gebiet, das mit einer Fläche von 3,5 Millionen Quadratkilometern mehr als achtmal so groß ist wie Frankreich, nur noch rund 370.000 Indigene. Sie gehören 188 Völkern an und sprechen 150 verschiedene Sprachen. 114 weitere Stämme wurden identifiziert, aber bislang aus Schutz vor Krankheit noch nie kontaktiert. Der Amazonas-Regenwald ist der einzige Ort der Erde, an dem die Luftfeuchtigkeit nicht von der Verdunstung des Meeres abhängt.

Dank der Größe und der intensiven Feuchtigkeitskonzentration verfügt er über einen Verdunstungsprozess, bei dem jeder Baum als Belüftungssystem fungiert und täglich hunderte Liter Wasser in die Atmosphäre abgibt. Dank seiner Milliarden Bäume bildet diese Vegetationsdecke Luftströme, die weit mehr Wasser transportieren als der Amazonasstrom. Die positiven Auswirkungen auf die globale Klimasituation sind immens. Umso bedrohlicher ist die Zerstörung der Regenwälder – aus reiner Gewinnsucht und rücksichtsloser Profitgier. Knapp 17 Prozent der Regenwälder wurden abgeholzt, bereits 20 Prozent der Biomasse sind verloren. Der Verlust des ökologischen Gleichgewichts wird dramatische Folgen für das globale Klima zeitigen. Der Erde Erwärmung sowie Klimawandel scheinen unaufhaltsam.

"Für mich ist dies die allerletzte Grenze, ein eigenes, geheimnisvolles Universum, in dem die ungeheure Kraft der Natur wie an keinem anderen Ort auf der Erde zu spüren ist. Dieser Wald erstreckt sich bis ins Unendliche und beherbergt ein Zehntel aller lebenden Pflanzen- und Tierarten – das größte Naturlaboratorium der Welt." In einem Balanceakt zwischen Dramatik der Situation und ästhetischem Anspruch an Aufbau und Komposition führt Salgado uns einen Prozess globaler Verelendung vor Augen, aus dem wir uns als Akteure im globalen Zusammenspiel ökonomischer und politischer Prozesse nicht mit voyeuristischer Schaulust entziehen können.

Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Ästhetik und Humanismus

Seit Jahrzehnten legt Salgado bewusst den Finger in offene Wunden. Der 1944 im brasilianischen Aimorés geborene dekuvrierte prekäre Arbeitsverhältnisse auf aller Welt, porträtierte Menschen, die durch Unterdrückung, Kriege, Armut, Unterdrückung, Hunger und Elend gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen und sich auf eine Reise ungewissen Ausgangs zu begeben. Keiner kann sagen, er hätte nichts von Hunger, Dürre und Krieg auf der Welt gewusst. Nicht erst seit Flüchtlingsboote täglich an den Mittelmeerküsten stranden, kentern und Ertrunkene an den von Touristen bevölkerten Stränden liegen. Salgados Dokumentationen Exodus, Genesis, Arbeit, Gold, Sahel sind mittlerweile Klassiker. Die Themen Migration, Vertreibung und Flucht sind heute aktueller, nein virulenter denn je.

Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Ohne Betroffenheitspathos, ohne erhobenen Zeigefinger ermahnt Sebastião Salgado zur Einkehr und Umkehr. Ohne Lösungspatente, präpotente Schlauheit oder Bevormundung. Seine eindringlichen, von Humanismus getragenen Reportagen führten nach Amerika, Afrika, Asien, auf den Balkan, in den Nahen Osten. Nun nach Südamerika. Zu bekannten Krisenherden sind neue dazugekommen, und mit ihnen Millionen obdachlose Migranten. Augenscheinlich aber ist, dass man vor allem vor Ort helfen muss, prekäre Situationen zu verbessern, zu verändern, humanitär zu handeln. Nicht zufällig muten die Titel von Salgados Bänden biblisch an, vielmehr sind es der Schöpfung Werk und des Teufels (personifiziert durch die Menschheit) Beitrag, auf deren soziale Verantwortung er klar hinweist.

Visualisiertes Plädoyer zur Umkehr

Rechtzeitig zum Weltumwelttag 2021 erscheint Salgados Hymnus an den Regenwald, dessen Artenvielfalt und Bedrohung durch den Menschen in seiner Habgier und Engstirnigkeit. Salgado nutzt das Medium Fotografie, um die Aufmerksamkeit auf Unangenehmes, Unbequemes zu lenken. Logische Konsequenz ist damit auch seine Präsenz beim weltgrößten Open-Air-Fotofestival, dem Festival La Gacilly-Baden Photo, das heuer von 18. Juni bis 17. Oktober zu einem Dialog zwischen Kultur und Natur einlädt. Auf einem über sieben Kilometer langen Parcours bittet Festivaldirektor Lois Lammerhuber in die niederösterreichische Biedermeierstadt Baden zum aktiven Hinterfragen von Nachhaltigkeit und Verantwortung, angesichts Arbeiten namhafter südamerikanischer Künstler: von Sebastião Salgado über Marcos López, Emmanuel Honorato Vázquez, Cássio Vasconcellos, Carolina Arantes, Pablo Corral Vega, Tomás Munita, Carl de Souza bis zu Pedro Pardo, Pascal Maitre et alii.

Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN

Manifest der Verantwortung

Bei der Präsentation in Paris verlautbarte Salgado, dass Amazônia sein letztes Buch sein werde. In Zukunft will er sich gemeinsam mit seiner Frau Lélia mit dem von ihm gegründeten Instituto Terra der Aufforstung des brasilianischen Regenwalds widmen. Man könnte zu Recht resümieren, dass Amazônia, neben Genesis, wohl das ultimative Werk Salgados darstellt. Zu hoffen aber ist, dass auch diesem Opus magnum weitere Epen folgen mögen. Im Sinne der Verantwortung, im Sinne echter, ehrlicher Nachhaltigkeit. Final bleibt nur einmal mehr an das heute zur Hymne der Fridays-for-Future-Bewegung mutierte Chanson von Universalkünstler André Heller Erhebet Euch, Geliebte zu erinnern, der vor 40 Jahren schon sang: "Dieser Stern ist uns doch nur geliehen, von Künftigen, die nach uns sind ..." (Gregor Auenhammer, 8.6.2021)

Sebastião Salgado, "Amazônia".€ 100,– / 528 Seiten. Erhältlich als Limited Collector’s Edition mit signiertem Original.Taschen-Verlag, Köln / Los Angeles 2021
Foto: Sebastião Salgado. Amazônia / TASCHEN