Drei Tage lang fahndete die Polizei nach der Entdeckung des sterbenden 36-Jährigen in Wien-Meidling nach der Angeklagten.

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Wien – So wie die Angeklagte Carina R. es vor dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Olivia-Nina Frigo darstellt, hätte der Nachmittag des 18. November entspannt enden sollen. Tatsächlich lag am Ende aber der 36-jährige Herr P. sterbend im Eingangsbereich eines Abbruchhauses in Wien-Meidling – die Angeklagte hatte ihm mit einem Obstmesser einen Stich ins Herz versetzt.

Der Staatsanwalt wirft der 27 Jahre alten Unterstandslosen Mord vor, ihr Verteidiger sieht dagegen eine Notwehrsituation. Denn bisher habe seine Mandantin lediglich zwei Vorstrafen wegen versuchten Diebstahls, sie sei noch nie durch ein Gewaltdelikt aufgefallen. "Irgend etwas muss passiert sein", ist er überzeugt.

Allerdings liefert R. bisher mehrere Versionen, was damals geschehen sein soll. Bei der Polizei sagte sie noch, P. habe sie vergewaltigt, da habe sie zugestochen. Als eine Untersuchung der Leiche ergab, dass keine DNA-Spuren der Angeklagten auf dem Körper des Toten waren und sie im Krankenhaus die Untersuchung mittels eines "Rape-Kits" verweigerte, änderte sie ihre Geschichte. P. habe sie gewürgt und sie wohl vergewaltigen wollen, sie habe rechtzeitig zugestochen.

Dritte Variante des Tathergangs

Nun kommt vor Gericht eine dritte Variante. Sie habe den obdachlosen P. im Mai oder Juni kennengelernt, zehn- bis zwölfmal habe sie mit dem unbescholtenen tschechischen Staatsbürger etwas unternommen. Am Tattag habe sie ihn in einer Betreuungseinrichtung getroffen, man habe den Nachmittag gemeinsam verbringen wollen. Mit einem "Picknick", wie ihr Verteidiger es nennt.

Mit drei Äpfeln und zwei Flaschen Weißwein sei man in ein baufälliges Gebäude in Wien-Meidling gefahren. Auf den Überwachungsvideos der U-Bahn ist zu sehen, dass die beiden Arm in Arm unterwegs waren und sich gut verstanden. Im ersten Stock des Hauses machte man es sich auf den dort herumliegenden Matratzen bequem, hörte Techno auf dem Handy. "Ich war bladlwach", gibt die Angeklagte zu – sie hatte seit dem Morgen Wein getrunken und fünf Tabletten Beruhigungsmittel zu sich genommen.

Durch Muttersprache provoziert

Gegen einen an die Besinnungslosigkeit grenzenden Rauschzustand spricht, dass sie sehr detailliert schildern kann, was ihrer Darstellung nach passiert sei. "Wir wollten einvernehmlichen Sex", sagt R., sie sei daher auf dem liegenden P. gesessen und habe sein Hemd aufgeknöpft. P. habe plötzlich in seiner Muttersprache auf sie eingeredet, behauptet die Angeklagte, was sie geärgert habe. "Er hat mich provoziert, indem er nur Tschechisch gesprochen hat!", erklärt sie dem Gericht. Es sei zu einem Wortgefecht gekommen, auch sie habe geschimpft. "Ich habe ihm gesagt, dass niemand mit ihm Geschlechtsverkehr haben möchte, wenn er nur Tschechisch spricht. Also, in anderen Worten: Ich habe gesagt: 'Wer will schon mit dir ficken, wenn du nur Tschechisch redest?'"

P. habe auch versucht, sich aufzurichten, und habe sie angestarrt, behauptet die 27-Jährige. "Ich hatte Todesangst!", versucht sie zu erklären. Vorsitzende Frigo kann das nicht nachvollziehen: "Wieso? Sie sitzen auf ihm, und er beschimpft Sie? Warum sind Sie nicht einfach gegangen?" – "Ich war betrunken und hatte auch Lust", lautet die Antwort. Stattdessen habe sie in ihren Rucksack gegriffen und P. das angeblich zum Aufschneiden der Äpfel frisch gekaufte Obstmesser mit einer sieben Zentimeter langen Klinge einmal in die Brust gerammt. "Ich habe reflexartig zugestochen", beteuert sie.

Notoperation am Tatort

Danach sei sie aufgesprungen und verwirrt aus dem Haus gelaufen. Die Rettung habe sie nicht rufen können, argumentiert sie, da ihr Mobiltelefon noch im Abbruchhaus lag. Einige Minuten später sei sie daher zum Tatort zurückgekehrt, dort habe sie P. im Eingangsbereich liegen gesehen und sei davon ausgegangen, dass er tot sei. Tatsächlich lebte P. noch – ein Passant fand ihn, alarmierte die Rettung, der Notarzt versuchte noch vor Ort, die Herzwunde des Opfers zuzunähen. Es half nichts, die Nähte platzten wieder, und der Verletzte verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus.

Nachdem R. ihre Habseligkeiten geborgen hatte, verschwand sie wieder, entsorgte die Waffe in der Donau und wurde drei Tage später festgenommen. "Ich habe mich oft gefragt, ob ich anders hätte handeln können. Und ich muss sagen, ich glaube nicht", zeigt die Angeklagte sich auch vor Gericht von einer Notwehrsituation überzeugt. "Das bedeutet, wenn Sie wieder in so einer Situation wären, würden Sie wieder zustechen?", fragt Beisitzer Wolfgang Ettl. "Nein, ich möchte ja keinen Menschen verletzen", antwortet die Angeklagte. Dass sie ein Aggressionsproblem habe, verneint sie. Frigo hält ihr allerdings vor, dass sie auch in der Untersuchungshaft zweimal mit Justizwachebeamten aneinandergeraten sei, einen davon habe sie angespuckt. R. begründet das mit angeblich ungerechter Behandlung.

Stichkanal von unten nach oben

Der gerichtsmedizinische Sachverständige Daniele Risser glaubt die Darstellung der Angeklagten offenbar nicht wirklich. Denn er referiert, dass der tödliche Stich von unten gekommen sei und in einem Winkel von 65 Grad das Herz des Opfers durchstochen habe. Das würde eher dafür sprechen, dass das Opfer gestanden sei, ist er überzeugt. Wäre die Angeklagte auf P. gesessen, wäre ein anderer Stichkanal zu erwarten.

Die psychiatrische Gutachterin Gabriele Wörgötter stellte bei R. eine kombinierte Persönlichkeitsstörung fest. Die Angeklagte sei mit 17 in die Suchtmittelszene abgeglitten, sie leide an verminderter Impulskontrolle und einer stark eingeschränkten Empathiefähigkeit. Zum Tatzeitpunkt sei die Angeklagte zurechnungsfähig gewesen. Wörgötter geht aber davon aus, dass R. gefährlich sei und daher die Voraussetzungen für eine Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach Strafgesetzbuch-Paragraf 21(2) erfüllt seien.

Am Ende entscheiden sich die Geschworenen für eine Verurteilung wegen Mordes zu 18 Jahren Haft. Zudem wird die Frau aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Das Urteil der Geschworenen erfolgte einstimmig nach nur zwei Stunden und ist nicht rechtskräftig. Beide Parteien gaben keine Erklärung ab. (Michael Möseneder, 8.6.2021)