Lernte in seiner Heimatstadt Melbourne, Puccini und Kálmán zu lieben: Barrie Kosky, der schon als Knabe "Macbeth" inszenierte und dabei die Hexen in Hosen steckte.

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Mailand, 4. September 1846. "Hier erhältst du den Entwurf zum Macbeth", schreibt Giuseppe Verdi an seinen Librettisten Francesco Maria Piave. "Diese Tragödie ist eine der größten menschlichen Schöpfungen (...). Wenn wir keine große Sache daraus machen können, sollten wir wenigstens versuchen, etwas zu machen, das jenseits des Gewöhnlichen liegt."

Melbourne, 1983. Der 16-jährige Barrie Kosky inszeniert Shakespeares Macbeth für eine Theateraufführung an seiner Schule. Weil er in eine reine Bubenschule geht, lässt er die Hexen und die Lady Macbeth von Buben spielen. Seither begleitet ihn das Drama durch sein ganzes Leben. Zweimal bringt er es als Student auf die Bühne, ein drittes Mal am Wiener Schauspielhaus, das er von 2001 bis 2005 als Co-Direktor leitet. Die schottische Männlichkeit besetzte er damals mit einem durchgehend weiblichen Ensemble. Im Fokus seiner Arbeit stehen menschliche Abgründe – mit einer entrischen Bühne, wo Licht und Schatten die blutrünstigen Thronstreitigkeiten begleiten.

Drama der Ängste

Zürich, 18. April 2016. Verdis Macbeth feiert Premiere an der Oper Zürich. Regie führt Kosky, der sich hier erstmals mit dem Opernstoff beschäftigt. Wie ein roter Faden zieht sich das innere Drama der Protagonisten durch die minimalistische Produktion. Ein Drama, so Kosky, das getrieben wird von Ängsten und Halluzinationen im Kopf der Protagonisten. "Dieser Sicht kann ich in der Opernversion noch viel radikaler folgen als im Schauspiel, weil Verdis Musik auf geniale Weise das Albtraumhafte im Stück in Klang fasst", hält er damals fest.

Paris, 23. November 1848. Nach der Erstaufführung in Neapel schreibt Verdi über die Sängerin Eugenia Tadolini: "Die Tadolini hat eine schöne Erscheinung; und ich möchte die Lady Macbeth hässlich und böse haben. (...) Die Tadolini hat eine klare, helle Stimme; und ich möchte für die Lady eine raue, erstickte, hohle Stimme haben."

Wien, Mai 2021. Kosky probt seine Zürcher Produktion an der Staatsoper. Auf der Bühne sieht man die Hauptdarsteller, Licht, Dunkelheit, zwei Stühle und ein paar tote Krähen. "Ich finde, das reicht", so Kosky. "In diesen Partien muss man bereit sein, die Sängereitelkeit zu Hause zu lassen, und darf keine Angst haben, auch einmal hässlich zu wirken." Verdi hätte seine Freude damit.

Auf Großmutters Spuren

Melbourne, 18. Februar 1967. Barrie Kosky wird als Enkel jüdisch-polnisch-ungarischer Einwanderer geboren. Als Bub begleitet er seine Großeltern in die Oper, in Symphoniekonzerte, in Ausstellungen und ins Musical. Sein erstes Opernerlebnis war Puccinis Madama Butterfly, die er als Siebenjähriger in Melbourne erlebte und die sein Leben veränderte. Seine erste Schallplatte war eine ungarische Aufnahme von Gräfin Mariza, von seiner Großmutter, einer großen Kálmán-Verehrerin. Kosky verliebt sich in die sinnliche Verbindung von Zigeunermusik, jüdischem Klezmer, Wiener Walzer und Berliner Jazz. Es bleibt eine besondere Liebe für die Operette, dieses genuin jüdische Genre, dem Kosky an der Komischen Oper Berlin, deren Intendant er seit 2012 ist, jene Bühne bietet, die es verdient.

Koskys Regiearbeiten sind überbordend – von der Zauberflöte als Comicstrip, die von mehr als 450.000 Zuschauern auf drei Kontinenten gesehen wurde, über Bernsteins virtuosen Candide in Berlin bis zu Wagners Meistersinger auf dem Grünen Hügel, wo Kosky als erster jüdischer Regisseur in der Geschichte der Festspiele inszenierte. Vor allem aber hat Kosky wie kein anderer dem Genre Operette zu neuem Glanz verholfen, fern von Kitsch und seichter Unterhaltung. 2019 inszenierte er bei den Salzburger Festspielen Orpheus in der Unterwelt als surreales Offenbach-Panoptikum mit einem Schuss Varieté und einer ordentlichen Portion Frivolität.

Flop in Wien

Wien, Dezember 2005. Kosky inszeniert Wagners Lohengrin an der Wiener Staatsoper. Ioan Holender hat ihn eingeladen, und obwohl ihm sein Bauchgefühl sagt, die Finger davonzulassen, erliegt er der Verführung. Die Produktion ist szenisch ein Riesenflop, und Kosky macht nie wieder Oper in Wien – bis jetzt. In seiner Wiener Zeit, sagt Kosky, sei er mit seiner Arbeit nie so richtig ernst genommen worden.

Er inszenierte an der Bayerischen Staatsoper und der Berliner Staatsoper, an der Opéra National de Paris, am Royal Opera House in London und an der Los Angeles Opera. Ende 2013 wurde die Komische Oper zum "Opernhaus des Jahres" gewählt, 2015 folgte der International Opera Award in der Kategorie "Ensemble des Jahres", 2016 wurde Kosky zum "Regisseur des Jahres" ernannt. Mit dem opulenten Inszenierungsstil soll jetzt Pause sein. Kommende Saison verabschiedet er sich aus Berlin. Spätestens Ende 2022 ist er zurück in Wien, wenn an der Staatsoper der neue Da-Ponte-Zyklus startet. Regie: Barrie Kosky. (Miriam Damev, 9.6.2021)