12. Juni 2008: Ivica Vastic verlädt den polnischen Goalie Artur Boruc und trifft in der Nachspielzeit per Elfmeter zum 1:1. Das erste österreichische Tor bei einer EM.

Foto: MLADEN ANTONOV / AFP / picturede

Mia woll’n eh ned g’winna, des trau ma si net zua.

Wenn’s a scheene Leich’ wurd’t, warat des schon gnua.
Altwiener Fußballlied

Österreich verhält sich zum Sieg wie der Fisch zum Fahrrad: gar nicht. Das ist nicht nur beim Fußballspielen so. Aber in diesem Fall besonders eindrücklich. Zumal der Fußball – im Gegensatz etwa zum Skifahren, wo stetige Erfolge Erfolgen folgen – Weltgeltung hat, sodass Österreichs Geringfügigkeit auf offener Bühne zur Schau gestellt wird. Kontrastiert mit den nicht selten hochfahrenden – um nicht zu sagen: hoffärtigen – Erwartungsgespinsten ergibt sich zuweilen ein recht erstaunliches Bild manisch-depressiven Irreseins. Ja, doch: So sind wir.

Unter diesem Gesichtspunkt sollte man einmal in die Schlachtgesänge horchen: "Immer wieder, immer wieder, immer wieder Österreich!" Das klingt dann eher nicht patriotisch anfeuernd. Sondern traurig getragen von tiefer Einsicht in den Nationalcharakter. Zweimal erst – 2008 und 2016 – durfte die österreichische Auswahl an einer europäischen Endrunde teilnehmen. Kein Spiel konnte gewonnen werden. Die Torerfolge kann man an den Fingern einer Tischlerhand abzählen: Ivica Vastić traf 2008 beim 1:1 gegen Polen aus einem Elfer, Alessandro Schöpf 2016 beim 1:2 gegen Island. Aus dem Spiel!

Es ist ja keineswegs so, dass es in Österreich keine guten Kicker gäbe. Im Gegenteil. 2016 spielte mit Christian Fuchs sogar ein amtierender Premier-League-Meister. David Alaba, der nun zu Real Madrid wechseln wird, ist deutscher Serienmeister und Champions-League-Sieger. Die Kicker des aktuellen Kaders dienen allesamt bei den erfolgreichen Klubs des Kontinents und verstehen es, sich dort durchzusetzen.

Aber seltsam: Kaum sind sie im Nationalteam, verlieren sie ihre Zuversicht und ihr selbstverständliches Vertrauen in sich. Im Team verwandeln sich die doch in den großen Ligen gestählten Fußballspieler auf einmal zu unmissverständlichen Österreichern; ausredenreich. Auch ausländisches Trainer-Know-how ändert daran nichts.

Praktisch hamma g’wonnen

Der Schweizer Marcel Koller, der doch zu so schönen Hoffnungen Anlass gegeben hatte, scheiterte 2016 in Frankreich. Der einzige Trost in diesem ballesterischen Euro-Jammer war es, dass das vor lauter Legionären strotzende Team Portugal ein 0:0 abgerungen hat. Portugal wurde dann immerhin Europameister. Hat man in Österreich ansehnlich verloren, sagt man: Praktisch hamma g’wonnen.

Das macht das Land nicht unsympathisch. Viele, Deutsche insbesondere, finden die Tschapperlhaftigkeit putzig. Manchmal ärgerlich, ja. Córdoba 1978 war aber weniger ein Triumph der längst schon ausgeschieden gewesenen Österreicher als eine Niederlage der hochnäsigen Deutschen, die ja immerhin als regierende Weltmeister nach Argentinien gereist waren.

Die Rache kam dann ohnehin 1982 im spanischen Gijón. Da hatte Österreich mit dem gegen Gruppengegner Algerien gemauschelten 0:1 gegen Deutschland nicht nur das Spiel verloren, sondern auch die Ehre. Und das machte das Land dann schon ein bisserl unsympathisch. Jedenfalls genant. (Ich – wenn ich beiläufig von mir erzählen darf – weilte an diesem 25. Juni 1982 im burgundischen Outback, im Hinterzimmer einer TV-Kaschemme in einem Kaff namens Lys. Und schwor den Dortigen, den Aufgebrachten, den von einer für sie selbst unerwarteten Zuneigung zu Maghrebinern Erfüllten, ich käme aus der Westschweiz. Wegen meines Stammelfranzösisch glaubten sie mir eh nicht. Aber seither begleitet mich die Frage, warum wir so sind, wie wir sind.)

Gegenargument Österreich

Manche meinen, sowas wie einen Nationalcharakter, eine Stammeseigenheit, eine Kulturausformung gebe es in Wirklichkeit gar nicht. Österreich darf als Gegenargument gelten. Friedrich Heer, der unermüdliche Forscher nach dem Österreichischen an Österreich, hat nicht nur ein Buch darüber geschrieben in seiner gedrängten Sprache, in die er viel zu viel Wissen stopfte. Immer wieder holte er darin weit aus, um in der "Tiefe der Jahre" – wie Heimito von Doderer seine Strudelhofstiege untertitelte – nach Antworten zu kramen.

"Benedek, der Trottel!"

Österreichs "lange Dauer" legt sich wie Sediment übers auch republikanische Gemüt. Und sei es bloß als die unbewusste, gewissermaßen vererbte Erinnerung daran, dass jeder Sieg schon den Keim der Niederlage in sich trägt. Erzherzog Karl, der Held von Aspern 1809, mutiert im Handumdrehen zum Loser von Wagram. So glorreich Erzherzog Albrecht sich im Juni 1866 geschlagen hatte: Auf Custozza folgte, wie das Amen im österreichischen Gebet, am 3. Juli Königgrätz. Das Einzige, was zu sagen blieb, sagte Kaiser Franz Joseph eh: "Benedek, der Trottel!"

Was sich der Königgrätzer Feldherr – Ludwig August Ritter von Benedek, begraben in Graz-St. Leonhard – anhören musste, musste noch jeder österreichische Teamchef über sich hören. Der Mainzer Franco Foda, Sturms Meistertrainer 2011, ist ein halber Österreicher und fast ein ganzer Grazer. Der wird also nicht besonders überrascht sein im Fall des Falles.

Neues Spiel, sagt man, neues Glück. Dass Nordmazedonien, die Niederlande oder die Ukraine – Österreichs Gruppengegner – zu biegen sein müssten, sagt man nicht. Jausengegner und Bloßfüßige, das sagt man schon, gibt es keine mehr. Jedenfalls für Österreicher.

Es gibt Nationen, die erwarten einen Sieg und nehmen eine Niederlage in Kauf, weil manches halt kommt, wie es kommt. In Österreich ist es umgekehrt. Da wird der Sieg in Kauf genommen. Die Franzosen rücken stimmgewaltig ins Feld: "Marchons! Marchons!" Die italienischen Brüder wissen die Siegesgöttin gar als eine Sklavin Roms an ihrer Seite: "Che schiava di Roma Iddio la creò!"

Das Schöne so begnadete Volk

Paula von Preradović, die auch aus metrischen Gründen die Töchter hat unter den Tisch fallen lassen, rühmte in der Bundeshymne das für das Schöne so begnadete Volk. Die Söhne auf dem Rasen haben sich das von jeher zu Herzen genommen. Franzosen, Engländer, Spanier, Holländer, ja Schweizer – sie alle mögen, wenn schon, dann mit fliegenden Fahnen untergehen. Die vornehmste Aufgabe österreichischer Fußballer war es stets, in Schönheit zu sterben. Manchmal gelang ihnen das sehenswert.

Der Defätismus ist Österreichs Waffe gegen seine Unart: das Verschreien. Mit euphorischer Zuversicht hat man sich stets verlässlich die Finger verbrannt. Daher rechnet man aus Vorsicht mit dem Schlimmsten. Um dann, sollte es überraschend doch anders kommen, zu sagen, was ein jeder und eine jede immer schon gesagt haben: "Was hab i g’sagt?!" (Wolfgang Weisgram, 9.6.2021)