Arbeiter in Kalkutta warten auf die Impfung: Lieferengpässe brachten den weltgrößten Impfstoffhersteller Indien in Verzug, zum Leidwesen der Ärmsten weltweit.

Dibyangshu Sarkar

Das Coronavirus wütet weiterhin heftig in Indien. Immerhin, die Spitze der täglichen Neuinfektionen liegt nunmehr einen Monat zurück. Die verheerende Welle hat nicht nur den Subkontinent schwer gezeichnet, sondern ging gleichzeitig mit einem Produktionsengpass bei Impfstoffen einher, der die Versorgung der ärmsten Weltregionen erschwert. Indien ist der mit Abstand führende Impfstoffproduzent für den Globalen Süden.

Die Ausfälle beim Serum-Institut, dem weltgrößten Hersteller, und anderen indischen Produzenten verursachten eine Lücke von 200.000 Dosen bei der Vakzinverteilaktion Covax der Weltgesundheitsorganisation. WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus sprach jüngst von einer "Impfstoffapartheid", weil die ärmeren Länder bisher nur 17 Prozent der weltweit produzierten Vakzine erhielten.

Längst ist eine heftige Debatte darüber ausgebrochen, ob man die globale Versorgung mit Vakzinen hätte besser absichern können, indem man Patente für Impfstoffe freigibt. Ein entsprechender Vorschlag von Indien und Südafrika wurde neuerlich im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO am Dienstag diskutiert. Mittlerweile sprechen sich auch die USA für eine Freigabe der Patente aus. Dagegen halten noch die EU-Staaten, die einen eigenen Vorschlag auf den Tisch legten.

Keine Patentlösung

Die EU spricht sich dafür aus, bestehende Werkzeuge der WTO zu verwenden, um Lizenzen zu vergeben. Das funktioniert so: Ein Land erteilt einem nationalen Impfstoffhersteller eine Lizenz, den Impfstoff eines Anbieters wie Pfizer oder Astra Zeneca herzustellen. Die produzierten Dosen müssen zum Selbstkostenpreis verteilt werden, und die Patente bleiben bestehen, nachdem die Lizenzen ausgelaufen sind.

Brüssel argumentiert, dass dieser Ansatz schneller umzusetzen wäre als eine Abschaffung bestehender Patente. Außerdem will die EU international durchsetzten, dass Exportrestriktionen für Impfstoffe und für zu deren Produktion notwendige Bestandteile so schnell wie möglich abgeschafft werden. Vor allem die USA standen in den vergangenen Monaten in der Kritik, die weltweite Versorgung mit notwendigen Komponenten durch Ausfuhrkontrollen untergraben zu haben. Der Chef des indischen Serum-Instituts sprach gar von einem "Embargo", das die USA verhängt hätten.

USA weisen Kritik zurück

Washington verwehrte sich gegen den Vorwurf. Formell ist es jeder US-Firma freigestellt, Aufträge für Reagenzien, Filter und ähnlich essenzielle Produkte in der Impfstoffherstellung ins Ausland zu liefern. Ein von Präsident Joe Biden aktiviertes Gesetz aus dem Kriegsrecht verpflichtet Zulieferer jedoch, zuerst heimische Aufträge abzuarbeiten.

Nun sind erstmals belastbare Zahlen veröffentlicht worden, die zeigen, in welchem Umfang US-Zulieferer globale Impfstoffproduzenten versorgt haben. Allein das indische Serum-Institut importierte zwischen Oktober 2020 und März 2021 Komponenten aus den USA im Wert von 25 Millionen Dollar, wie eine Auswertung des Peterson Institute for International Economics und von S&P Global Market Intelligence Panjiva belegt. Das entspricht einer Steigerung von 30 Prozent im Vergleich zu den sechs Monaten davor. Dem Co-Autor des Berichts Chad Bown zufolge könne daher von einem US-Embargo keine Rede sein.

Sehr wohl zeige sich, dass die Engpässe in den Lieferketten ein massives Problem darstellen und die globale Impfstoffversorgung verzögern. Während auf der ganzen Welt neue Fabriken entstanden sind, beauftragen die Hersteller für Schlüsselkomponenten nur einige wenige Anbieter, die nicht im Gleichschritt expandiert haben. Je mehr Impfstoffe zugelassen werden, desto größer das Gedrängel am globalen Markt um deren Bausteine. Der Rückstau ist entsprechend enorm und holte in den vergangenen Wochen auch Indien ein.

Dass Patente auszusetzen das beste Instrument wäre, um die globale Impfstoffverteilung zu beschleunigen, wird von den meisten Ökonomen abgestritten. Eine im Mai durchgeführte Umfrage des IGM Forum an der Chicago-Booth-Universität unter 82 Topökonomen ergab, dass über 87 Prozent statt einer Patentfreigabe einen anderen Ansatz vorziehen.

Die reichen Länder sollten demnach zu Marktpreisen Impfstoffe kaufen und verteilen oder über temporäre Lizenzen einzelne Hersteller aktivieren. Einer der Befragten, Nobelpreisträger Angus Deaton, betont, dass dies nicht nur ökonomisch sinnvoll für die westlichen Länder wäre, sondern eine moralische Verpflichtung.

Internationales Impfabkommen

Am wichtigsten wäre es nun, die Zulieferer zu unterstützen, sagt Bown. Dazu müssten die Staaten kooperieren und ein System auf die Beine stellen, wie es sich in den USA bewährt hat. Der Ökonom schlägt vor: Daten über die gesamte Lieferkette müssten zentral erfasst werden. Wo sich Engpässe anbahnen, könnten Regierungen kurzfristig Notfallsgesetze anwenden, damit zusätzliche Schichten eingelegt werden. Mittelfristig müssten Staaten analog zur raschen Entwicklung der Impfstoffe Geld in die Hand nehmen, um die Produktion anzukurbeln. All das könnte ein internationales Investitions- und Handelsabkommen für Impfstoffe abdecken. (Leopold Stefan, 9.6.2021)