Löw vor seiner letzten Reise mit dem DFB-Team.

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Herzogenaurach – Bei seinem Besuch bei Angela Merkel legte Joachim Löw seinen schützenden "Panzer" für wenige vertraute Momente ab. "Wir haben über verschiedene Dinge gesprochen, die uns bewegen", berichtet Löw im SID-Interview über sein Treffen mit der Kanzlerin bei Cordon Bleu und Bratkartoffeln, "unter anderem über Politik und über Corona." Jetzt aber dreht sich auch beim Bundestrainer alles nur noch um Fußball.

Mit der Ankunft der deutschen Nationalmannschaft im kuscheligen EM-Quartier in Herzogenaurach schaltete Löw endgültig in den Turniermodus. Nichts und niemand soll ihn auf dem Weg zu seinem letzten Hurra stoppen. "Ich bin jetzt voll auf das Turnier fokussiert und darauf, die Mannschaft bestmöglich vorzubereiten", sagt er, "das macht mir Spaß, ich spüre sehr viel Energie." Die strahlte Löw auch bei seiner kurzen Ansprache an seine Auswahl am Dienstagabend aus.

Keine Zielvorgabe von Merkel

Für Wehmut, sagt Löw, sei jetzt kein Platz, zu groß ist sein Wille, sich nach den bitteren Enttäuschungen der vergangenen drei Jahre noch einmal zu beweisen. Eine Zielvorgabe hat ihm die Kanzlerin, die in einer Videoschalte am Donnerstag "in aller Kürze" zur gesamten Mannschaft sprechen soll, "natürlich nicht" mitgegeben. Löw aber spürt: In seinem Team steckt viel mehr als beim historischen WM-Desaster 2018.

Damals in Russland "war die Stimmung anders", erinnert sich Löw, "da lag eine gewisse Schwere über der Mannschaft – die spüre ich jetzt nicht. Ganz im Gegenteil: Die Stimmung ist sehr gut." Energie und Einsatz seien "top. Der Ehrgeiz ist sehr ausgeprägt bei den Spielern, sie wollen erfolgreich sein." Und deshalb geht auch der Chef "guten Mutes und sehr optimistisch" in die "Todesgruppe" F mit dem Auftaktspiel gegen Weltmeister Frankreich am Dienstag in München.

Aber ist da wirklich mehr als die erwartbare und zur Schau gestellte Zuversicht? Wer Löw in der Vorbereitung beobachtet, sieht einen ebenso entspannten wie fokussierten Bundestrainer. Er scherzt viel mit seinem Stab, diskutiert aber auch angeregt mit den Spielern um die Rückkehrer Thomas Müller und Mats Hummels.

Hoffnung auf Dreierkette

Außerdem lässt er konsequent an den Schwächen arbeiten – und scheut im Sinne seines Mantras, wonach er "alles" dem Erfolg unterordnen werde, vor scheinbar unpopulären Maßnahmen nicht zurück. Das beweist etwa die Versetzung von Joshua Kimmich auf die rechte Seite. Damit moderierte Löw auch die Zweifel in der Mannschaft an der Dreierkette, mit der er Frankreich und Titelverteidiger Portugal stoppen will.

Wenn er über seine Wunschvorstellungen für die EM spricht, denkt Löw meist an sein Ideal 2014 zurück. Damals, beim WM-Triumph in Brasilien, seien auch die Ersatzspieler jederzeit bereit gewesen, jeder war für den anderen da – und ein Philipp Lahm akzeptierte klaglos seine Not-Rolle hinten rechts. "Die Ansätze sind auch dieses Mal gut", glaubt Löw, "aber unter Beweis stellen müssen wir es im Turnier und dort jeden Tag aufs Neue leben." Auch er selbst.

Schluss nach 15 Jahren

Und wenn es trotzdem schief geht? "Wir haben viel erreicht", sagt Löw über seine 15-jährige Amtszeit. Aus einer Elf, die vor allem über Einsatz und Kampf zu Erfolgen gekommen sei, habe er ein Team geformt, das "technisch und fußballerisch" phasenweise weltweit "die Benchmark" war. Mit seiner Entscheidung, sein Amt nach der EM aufzugeben, ist Löw daher "im Reinen", sein Erbe Hansi Flick habe "hervorragende Voraussetzungen".

Und was wird aus Löw? Sofort in den nächsten Job will er sich nicht stürzen. "Ich muss sicher erstmal emotional Abstand gewinnen." Er freue sich vielmehr auf Treffen mit der Familie und Freunden, auch seinen Hausberg, den 1414 m hohen Belchen im Schwarzwald, will er "noch einmal sehen". Und vielleicht ergibt sich im Herbst nochmal ein Gespräch mit Angela Merkel – von Ex-Chef zu Ex-Chefin. (sid, 9.6.2021)

DER STANDARD