Von hier fuhr der (unsichtbar bleibende) Täter in die Grazer Fußgängerzone: Boxenstopp mit Tim Werths (li.) und Philipp Hauß (als Wittgenstein).

Foto: Marcella Ruiz Cruz

Genau ein Jahrhundert nach Erstveröffentlichung des "Tractatus logico-philosophicus" hat sich dessen Autor, ein von ethischen Skrupeln geplagter Meisterdenker aus Wien, stark verändert. Ludwig Wittgenstein (1889–1951), der weltberühmte Philosoph, hat sich in einen zuvorkommenden Mann von etwa vierzig Jahren verwandelt. Philipp Hauß wirbt vor der nackten Feuermauer des Wiener Akademietheaters um die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Er entfaltet dabei das milde Phlegma eines Maschinenbaulehrers.

Tatsächlich entsinnt jeder noch so flüchtige Leser des "Tractatus" der autoritären Geste, mit der dieser Schlüsseltext Jahrhunderte philosophischer Lehrtätigkeit für glatten Humbug erklärt. Die Welt ist: "Alles, was der Fall ist". So auch der Titel dieser auf befremdliche Weise packenden eineinhalb Stunden.

In einer strengen Abfolge von Paragrafen machte Wittgenstein Schluss mit Sittenlehre und Transzendentalgymnastik. Die abendländische Metaphysik darf, unbewiesener Annahmen wegen, abtreten. Jeder Satz, so Wittgenstein, bilde ein Modell der Wirklichkeit. Die Verknüpfung der Tatsachen folgt logischen Regeln. Diese bestimmen die Form unserer Sätze. Womit für Wittgenstein sonnenklar ist: Dort, wo die Sprache aufhört, fangen die Probleme in Wahrheit erst an.

Im Akademietheater bemüht sich das britisch-irische Kleinkollektiv Dead Centre um eine raffinierte Übersetzung von Wittgensteins Annahmen ins Sinnfällige. Entwirft nicht auch die Theaterkunst Modelle? Solche, die nur innerhalb ihrer Grenzen funktionieren? An einem klitzekleinen Bühnenmodell nimmt Wittgenstein (Hauß) die zauberhaftesten Verwandlungen vor. Er baut maßstabsgerechte "Macbeth"-Wälder, indem er Zweiglein herumschiebt. Er rückt sich selbst ins Licht: als daumenhohen Pappkameraden. Auf allem ruht, gleichgültig gegenüber "Gut" und "Böse", das Kameraauge.

Der Grazer Amokfahrer

Doch dieser Herr Wittgenstein weiß auch: Er selbst ist nur das Modell von jemandem, "den es geben könnte". Wen es unbestreitbar wirklich gab und gibt, ist hingegen jener Fahrzeuglenker, der am 20. Juni 2015 durch die Grazer Innenstadt raste: Der Amokfahrer tötete drei Menschen und verletzte 36 weitere zum Teil schwer.

Was ging in dem Raser vor sich? Die Modellanstalt Theater soll Klarheit verschaffen, als Vermessungszentrum, als ethische Versuchsanstalt. Die fünfköpfige Schauspielerinnenschar schlüpft reihum in immer absurdere Rollen. Die Black Box hilft, durch Überblendungen (Bühne: Nina Wetzel, Video: Sophie Lux) Spielzeugattrappen in Kulissen, "frozen Dummys" in Menschen aus Fleisch und Blut zu verwandeln.

Von nun an lenkt nicht die Metaphysik, sondern der Zufall die Handlung. Man vergisst sogar auf Ludwig Wittgensteins Aphorismen. Man wird auf der Fährte eines Täters gesetzt – und kann sich doch auf die widersinnigste aller Wahnsinnstaten keinen Reim machen. Die Schauspielerinnen Alexandra Henkel und Andrea Wenzl agieren gemeinsam mit Tim Werths und Johannes Zirner vor einem Greenscreen-Set. Vorproduzierte Bilder werden hineingeschnitten; mitunter sieht man vor lauter "Macbeth"-Bäumen den Wald nicht mehr.

Von Kals in den Wald

Und doch ergibt alles zusammen einen verblüffenden Sinn. Von Graz-Kals, dem Wohnort des aus Bosnien stammenden Rasers, führt die Tiefenuntersuchung hinab in die Winterkälte des postjugoslawischen Bürgerkrieges 1993. Von dort und von der Frage, ob die mitgeführte Hündin erschossen gehört, wechselt das Skript von Ben Kidd und Bush Moukarzel, den beiden Regisseuren, hinüber in das Oberstübchen von Shakespeares Macbeth (Hauß). Wahrhaft ein unbehaglicher Ort. Dort wimmelt es bekanntlich vor Hexen, vor blutüberströmten Opfern. In ihm kehrt sich das Gewissen des Mörders gegen sich selbst.

Schwer zu sagen, ob Ludwig Wittgenstein, als Philosophielehrer in Cambridge immerhin ein leidenschaftlicher Kinogeher, mit der versponnenen Szenenanlage von Dead Centre etwas anzufangen gewusst hätte. Nach Sigmund Freuds Traumlehre und nach den Verheißungen des Transhumanismus malt das angelsächsische Theatergespann jetzt die Schrecken des Humanismus an die Wand.

Jenseits der Grenzen unserer Sprache befindet sich ein unerforschtes Land. In ihm sind keine Engel zuhause; doch trifft man dort auf Rätsel in Menschengestalt. Der Rest ist Schweigen. Und viel freundlicher Applaus. (Ronald Pohl, 9.6.2021)