Diese Ruderer trotzen der Schleimplage im Marmarameer. Schwimmen wird nicht empfohlen.

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Der Anblick ist erschreckend. Wo sonst das Meer in der Sonne schimmert, bedeckt jetzt eine dicke, zähe, weißgelbe Schleimschicht die gesamte Bucht rund um Bostancı. Von diesem Istanbuler Stadtteil auf der asiatischen Seite starten die meisten Fähren zu den vorgelagerten Prinzeninseln, einem der wichtigsten Naherholungsgebiete der Millionenmetropole.

Wer gehofft hatte, den Schleim draußen auf dem Meer hinter sich zu lassen, um auf den Prinzeninseln baden gehen zu können, wird enttäuscht. Auch rund um Büyükada und Heybeliada, die beiden größten Eilande der geschichtsträchtigen Inselgruppe, wabert der Schleim, der im Englischen "sea snot", also Meeresrotz, genannt wird.

Fische ersticken

Schwimmen ist völlig unmöglich, aber nicht nur die Naherholung ist durch den Meeresrotz bedroht, in weiten Teilen des Marmarameers kann nicht mehr gefischt werden, und die Fischeier, aus denen die nächste Generation schlüpfen soll, ersticken im Schlamm. Das Phänomen ist nicht auf die Küsten rund um Istanbul beschränkt, sondern reicht vom Golf von İzmit ganz im Osten des kleinen Meeres bis nach Çanakkale an den Dardanellen. Das gesamte Marmarameer zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis ist betroffen.

Anfang vergangener Woche haben sich 43 Städte und Gemeinden rund um das Marmarameer zu einem gemeinsamen Notruf zusammengeschlossen und die Regierung zu Aktionen aufgefordert. "İmdat", Hilfe, titelte die größte türkische Tageszeitung Hürriyet, das Marmarameer drohe zu sterben.

Meeresforscher aus Istanbul, Çanakkale und Bandırma an der Südseite des Meeres sind sich einig, dass der Meeresschleim, der Rotz, der in dieser Massivität das erste Mal auftaucht, ein klarer Hinweis auf die ökologische Katastrophe ist, die sich seit Jahren am Marmarameer abspielt. "Der Schleim ist das Ergebnis einer explosionsartigen Vermehrung von Phytoplankton", erklärt der Hydrobiologe Levent Artüz von der Organisation Marmarameer Umwelt Monitoring.

Bilder von der Schleimplage
DER STANDARD

"Das Meer stirbt ab"

"Das Plankton platzt und sondert den Schleim ab. Der Schleim selbst ist nicht giftig, aber er hat verheerende Folgen für Fische, Korallen, Muscheln und Schwämme unter Wasser, weil er sich nach und nach absetzt und alles Leben auf dem Grund abtötet. Der Schleim verhindert den Austausch des Meeres mit der Atmosphäre und führt dazu, dass das Meer biologisch abstirbt."

Laut Mustafa Sarı, dem führenden Meeresbiologen der Universität in Bandırma, ist die Vermehrung des Planktons ein sichtbares Zeichen des Klimawandels, also der Erwärmung des Wassers, der immensen Schadstoffeinleitung über die letzten Jahrzehnte, insbesondere von den knapp 20 Millionen Meeresanrainern in Istanbul und der totalen Überfischung, die dazu geführt hat, dass die Fischbestände, die sich von dem Plankton ernähren, kaum noch vorhanden sind.

Dazu kommt die besondere Lage des Marmarameers. Eingeklemmt zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis hat das kleine Meer nur einen Zufluss durch den Bosporus und die Dardanellen. Die Fließgeschwindigkeit ist gering, Schmutz und Sedimente setzen sich leicht auf dem Meeresgrund fest. "An einigen Stellen, an denen die Meerestiefe eigentlich 100 Meter tief ist, beginnt nach 25 Metern bereits die Schmutzablagerung. Unterhalb von 25 Metern ist das Meer bereits biologisch tot", sagt Levent Artüz.

Hoffnung auf Wind

Einige Kommunen haben begonnen, den Schleim abzusaugen, aber das sind rein kosmetische Maßnahmen. Einige hoffen auf den Poyraz, einen strammen Nordwind, der den Schleim vertreiben soll. "Doch das ändert nichts am grundsätzlichen Problem", wie die Istanbuler Meeresbiologin Neslihan Özdelice sagt. "Da wir an der globalen Erwärmung kurzfristig nichts ändern können, müssen wir den Schmutz-, Nitrat- und Phosphoreintrag ins Meer drastisch reduzieren und außerdem Fangverbote verhängen, damit sich die Fischbestände wenigstens ein wenig erholen können", meint sie.

Doch das ist leichter gesagt als getan. Rund ums Marmarameer, von Istanbul über İzmit (Kocaeli) bis Bursa ist der größte Teil der türkischen Industrie angesiedelt. Verklappung von Industrieschmutz ins Meer ist gang und gäbe. Auch die Metropole Istanbul wächst immer weiter. Und Fisch ist ein Grundnahrungsmittel für die Istanbuler.

Todesurteil droht

Und es droht dem Marmarameer bereits neues Ungemach. Der neue Kanal zwischen dem Schwarzen Meer und dem Marmarameer, der künstliche zweite Bosporus, den Präsident Recep Tayyip Erdoğan gegen den erklärten Willen des größten Teils der Stadtbewohner unbedingt bauen lassen will, droht zum endgültigen Todesurteil für das Marmarameer zu werden.

"Wenn der Kanal gebaut wird", sagte der bekannte türkische Meeresbiologe Cemal Saydam schon im vergangenen Jahr der deutschen "Taz", "wird das Marmarameer endgültig zu einem toten Gewässer, das buchstäblich zum Himmel stinken wird." (Jürgen Gottschlich, 10.6.2021)