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PRO: Eine halbe Demokratie

von András Szigetvari

Ein paar Fakten zur Debatte um die Vergabe von Staatsbürgerschaften: Kaum ein Industrieland bürgert so wenige Menschen ein wie Österreich. Die Quote lag 2020 bei 0,59 Prozent. Von tausend Menschen mit Migrationshintergrund erhalten im Jahr gerade sechs die österreichische Staatsbürgerschaft. Unter den EU-Ländern sind nur fünf Staaten noch restriktiver, darunter Litauen, Estland und Tschechien – und das sind keine Einwanderungsgesellschaften.

Lang sind nicht nur die Fristen, im Regelfall zwischen sechs und zehn Jahren. Abschreckend wirken Kosten und Einkommensanforderungen. Für ein Paar mit Kind belaufen sich die staatlichen Gebühren für eine Einbürgerung je nach Bundesland auf 2500 bis 5000 Euro, dann kommen noch teure Übersetzungen und Beglaubigungen dazu. Als Einkommensnachweis muss für eine Einzelperson monatlich 1200 Euro belegt sein; wer Kinder hat, muss mehr nachweisen. Wer Teilzeit arbeitet, also besonders Frauen, bleibt oft unter der Grenze.

Diese Hürden schaffen ein demokratiepolitisches Problem, das größer wird, weil auch hier geborene Kinder von Zuwanderern nicht automatisch Staatsbürger sind. Fast jeder dritte Wiener im wahlfähigen Alter darf nicht wählen – das sind rund 500.000 Menschen. Österreichweit ist jeder siebente Bürger ausgeschlossen. Wer Demokratie schätzt, sie schützen und stärken will, muss das Staatsbürgerschaftsrecht ändern oder das Wahlrecht grundlegend reformieren. Das sind die Fakten. (András Szigetvari, 9.6.2021)

KONTRA: Wer Österreich definiert

von Conrad Seidl

Österreich ist – ob das nun allen Bürgerinnen und Bürgern und allen von diesen gewählten Parteien passt oder auch nicht – ein Einwanderungsland. Vor acht Jahren hat die Zahl der Einwohner ohne österreichische Staatsbürgerschaft die Millionengrenze überschritten, im Vorjahr waren es erstmals eineinhalb Millionen Nichtösterreicher, die unser Land (zusätzlich zu den 7.409.699 Einheimischen) bevölkern.

Dieser Anstieg wirkt auf viele erschreckend: Wenn das in diesem Tempo weitergeht, dann könnten die Nichtösterreicher eines Tages eine Mehrheit darstellen. Damit verbunden die bange Frage: Werden die dann so sein wie wir? Oder werden wir sein wie jene? Und wer wird definieren, was dann in diesem Land als regionaler Standard gilt?

Solche Definition funktioniert in einem demokratischen Rechtsstaat über Wahlen: Staatsbürger wählen ihre Vertreter ja nicht nur, um persönliche Interessen durchzusetzen, sondern um ihre Vorstellungen vom Gemeinwesen repräsentiert zu sehen. "Weltanschauung" hat man dazu früher gesagt. Das Recht, hier mitzudefinieren, also die Staatsbürgerschaft, können nur jene haben, die eine tiefe Beziehung zum österreichischen Staat und seiner Gesellschaft haben – denen Österreich also wichtiger ist als andere Staaten und andere Gesellschaften. Hier restriktiv zu sein schützt Staat und Gesellschaft. (Conrad Seidl, 9.6.2021)