Es ist kein Zufall: Die Idee eines "Europapokals" entstand vor mehr als 60 Jahren fast zeitgleich mit den Römer Verträgen, die 1957 zur Bildung der EWG und dann der EU führten. Noch heute trägt die Trophäe den Namen des französischen Initiators Henri Delaunay. Was gibt es Symbolischeres als den sportlichen Wettstreit von Nationen unter dem gemeinsamen europäischen Dach, predigte dieser erste Generalsekretär der Uefa, der Union der europäischen Fußballverbände. Der Verband handelte von Beginn weg parallel zu den politischen Europaplänen, ja in enger Absprache mit Brüssel.

11. 6. 2016, Stadion in Marseille: Russische Hools treffen englische.
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Ziel war es auch, die Spaltung des Kontinents im Kalten Krieg zu verhindern. Es blieb bei der Absicht. Bei der ersten Fußball-Europameisterschaft im Jahr 1960 weigerte sich Francos Spanien, gegen die Sowjetunion anzutreten. 1964 trat Griechenland nicht gegen das damals kommunistische Albanien an. So richtig brüderlich blieben nur Ostblockduelle wie DDR gegen Ungarn.

Was die damalige BRD betrifft, erinnert man sich heute vor allem auch an sportliche Albträume wie die "Schmach von Tirana", ein 0:0 am 17. Dezember 1967, mit dem Deutschland gegen Albanien die Endrunde 1968 verpasste, oder "die Nacht von Belgrad", das gegen die Tschechoslowakei verlorene EM-Finale 1976 mit Antonín Panenkas legendärem Schupferl beim letzten Penalty im Elfmeterschießen.

"Stop it, Chirac"

Mit dem Fall des Sowjetimperiums entspannte sich die Lage bei den EM-Turnieren spürbar. In den Neunzigern kam es zu kleineren Agitprop-Aktionen, wie man sie nannte, als etwa Schweizer Spieler vor einem EM-Qualifikationsspiel gegen Schweden ein Transparent mit der Aufschrift "Stop it, Chirac" gegen die französischen Atomversuche im Südpazifik hochhielten. Die Uefa hat daraufhin kurzerhand alle politische Äußerungen auf dem Rasen verboten.

Seit ein paar Jahren kriegt die Uefa aber wieder Arbeit – Zeichen zunehmender geopolitischer Krisen und Konflikte. Dass sich nationalistische Tendenzen vermehrt Bahn brechen, zeigen mehrere Zwischenfälle auf dem Spielfeld. Bei einem EM-Qualifikationsspiel 2019 salutierten türkische Nationalspieler auf dem Fußballfeld, um den Syrienkurs ihres Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zu unterstützen. Die Uefa sprach bloß ein paar Verwarnungen und eine Buße aus.

Straßenschlachten

Die Türkei-Frage überfordert einen Fußballverband, der – wie die EU – bis heute nicht wissen will, wo die Grenzen Europas aufhören. 1962 hatten türkische Funktionäre der Uefa noch angeboten, den Sitz ihres nationalen Fußballverbandes von Ankara nach Istanbul zu verlegen, um damit sozusagen Europäer zu werden. Heute würde Erdoğan eine solche Möglichkeit oder ein solches Angebot kaum mehr ins Auge fassen.

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Auf den Straßen ging es in der Nacht weiter.
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Die letzte EM im Jahr 2016 in Frankreich ist in schlechter Erinnerung geblieben, weil deutsche Rechtsextremisten vor dem Ukraine-Spiel die Reichskriegsflagge schwenkten. In Marseille lieferten sich Hooligans aus England und Russland Straßenschlachten. Und in Moskau frohlockte der Vizeparlamentspräsident Igor Lebedew auch noch, die Schläger hätten die "Ehre Russlands" verteidigt. "Gut gemacht, Jungs, weiter so!", goss einer der ranghöchsten Vertreter des russischen Staates Öl ins Feuer.

Die aktuelle EM wirft mehr Fragen auf denn jede vor ihr. Werden die Türken beim Eröffnungsspiel gegen die Italiener am Freitag in Rom wieder mit der Hand an der Schläfe Erdoğan grüßen? Wird es am 18. Juni bei England gegen Schottland ohne Brexit-Pöbeleien abgehen? Und vor allem: Was, wenn Russland und die Ukraine in der Finalphase aufeinandertreffen? Die Uefa hatte mehrere Duelle in der Qualifikation und in den Gruppenspielen untersagt: Russland durfte nicht mit der Ukraine zusammengelost werden, Kosovo nicht mit Bosnien oder Serbien, Armenien nicht mit Aserbaidschan, Spanien nicht mit Gibraltar.

Spannungspotenzial

Die Uefa nennt das "prohibited clashes", verbotene Zusammenstöße. Zum Glück haben sich die meisten dieser Nationalteams nicht für die EM-Endrunde qualifiziert. Aber wie wird Wladimir Putin reagieren, sollten die Russen gegen die Ukrainer antreten – und verlieren?

Solche Fragen treiben längst nicht nur Sportinteressierte um. Von England bis Russland unterstreicht die EM das wachsende Spannungspotenzial, und die Uefa reagiert so ratlos wie die EU auf politischer Ebene. Gewiss ist noch kein Feuer am Dach. Die oft gehörte These, die Welt sei heute so vernetzt und interdependent, dass dies automatisch auch aggressive Staaten und Regime im Zaume halte, findet ihre Entsprechung im Fußball: Nicht nur in Profiturnieren wie der Champions League, sondern auch bei Nationenturnieren sei heute so viel Geld und Kommerz im Spiel, dass niemand mehr einen Clash verantworten könne oder wolle.

Doch es gibt eine Gegenthese: Gerade weil Turniere wie die EM oder WM heute planetare Medienereignisse sind, könnten Populisten wie Nationalisten auf allen Kontinenten auf dumme Ideen kommen und politischen Missbrauch treiben wollen. Da heißt es aufpassen – bei dieser EM mehr denn je. (Stefan Brändle, 10.6.2021)