Desinformation zu verbreiten heißt, mit Menschenleben zu spielen. Desinformation tötet. Mit diesen scharfen Worten warnte der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, vor den Folgen gezielter Falschinformationen im Zusammenhang mit dem Coronavirus im März 2020. Ein BBC-Artikel vom Sommer 2020 stellt Borrells Aussage in einen erschreckenden Kontext: Weltweit starben zumindest 800 Menschen an den Folgen von Covid-19-Desinformation, und das allein innerhalb des ersten Quartals 2020. Seit damals registrierte die europäische Plattform EUvsDisinfo hunderte Fälle von nachweislich falschen Informationen rund um das Virus – die Dunkelziffer liegt um ein Vielfaches höher. Wie definiert und erkennt man jedoch Desinformation? Warum stellt sie selbst für gefestigte Demokratien eine ernstzunehmende Bedrohung dar? Und welche Lehren hat man aus den Desinformationskampagnen im Zuge der Covid-19-Krise gezogen?

Manipulation und Polarisierung führen zu Destabilisierung

Zu Desinformationskampagnen gebündelt, verfolgt die systematische Erstellung und Verbreitung von unwahren beziehungsweise irreführenden Inhalten die bewusste Absicht Unsicherheit und Misstrauen zu stiften. Staatsnahe Institutionen oder gar Regierungsbehörden sind in vielen Fällen zumindest indirekt – über die eigenen Staatsgrenzen hinaus – in deren Streuung involviert. Die Intention jener Kampagnen liegt in der vorsätzlichen Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung sowie der daraus resultierenden Aushöhlung des Vertrauens in objektive Berichterstattung und Regierungen.

Als Folgewirkung werden gesellschaftliche Spannungen geschürt, bei gleichzeitiger Destabilisierung des politischen Systems. Staatliche Akteure wie Russland und China bedienen sich dabei professioneller Gruppierungen und Netzwerke, welche inszenierte Informationsoperationen insbesondere online durchführen. Die beabsichtigte aggressive Einmischung gepaart mit der Verschleierung manipulativer Falschmeldungen stellen somit die Hauptmerkmale von Desinformation dar. Aus diesem Grund zählen Desinformationskampagnen zu den Methoden der hybriden Kriegsführung, welche auf verdeckten und unkonventionellen Angriffen unterhalb der Schwelle des offenen Krieges beruhen. Die Mittel und Wege, um Informationen gezielt zur Verfolgung nationaler Eigeninteressen im In- und Ausland zu steuern, werden somit zum Instrument der Machtausübung.

Neben Falschinformationen zirkulieren auch Verschwörungsmythen, und User bestätigen sich nicht nur gegenseitig in ihrer verzerrten Meinung, sondern sie können sich auch radikalisieren.
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Per se sind jene täuschenden Taktiken so alt wie die Geschichte der strategischen Kriegsführung selbst. Dennoch spielt eine neuartige Entwicklung eine essenzielle Rolle, welche die Auswirkungen und Reichweite von Desinformationskampagnen exzessiv befeuert: der Fortschritt der Digitalisierung. Einerseits ermöglichen die heutigen digitalen Technologien, Informationen mit einfachen Mitteln zu verfälschen, sie durch Algorithmen zielgruppengetreu zu platzieren sowie eine große Anzahl von Personen, vor allem über soziale Medien und Online-Plattformen, zu erreichen. Dabei entstehen sogenannte Filterblasen und Echokammern, in welchen neben Falschinformationen auch Verschwörungsmythen zirkulieren und sich User nicht nur gegenseitig in ihrer verzerrten Meinung bestätigen, sondern auch radikalisieren können.

Andererseits erleben wir eine noch nie dagewesene Abhängigkeit von digitalen Anwendungen, Produkten, Dienstleistungen und Medien, die sich sowohl im Privaten als auch im Kollektiv verfestigen. Die Digitalisierung ist zum Rückgrat des wirtschaftlichen, politischen und individuellen Daten- und Informationsaustauschs herangewachsen und stellt daher eine kaum wegzudenkende Konstante in allen Lebensbereichen dar. Die daraus resultierende gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Verletzlichkeit ist uns nur wenig bewusst: Während wir immer mehr Informationen und Leistungen aus dem digitalen Raum beziehen, geben wir vermehrt persönliche Daten (freiwillig) preis, welche weiterverarbeitet werden, um unsere individuelle Verhaltensweise und Meinung maßgeblich zu beeinflussen.

Neues Bewusstsein über hybride Gefahren und ihre Folgen

Die Covid-19-Krise veranschaulicht jene Verletzlichkeit eindringlich. Zeitgleich mit der weltweiten Ausbreitung des Virus stieg laut der Weltgesundheitsorganisation die Anzahl und Intensität an Desinformationskampagnen in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Die Europäische Union und die nationalen Regierungen der Mitgliedsstaaten reagierten rasch. Sie aktivierten erstmalig das Desinformation-Frühwarnsystem der EU und leiteten zahlreiche Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung und Faktenüberprüfung ein. Außerdem will man Plattformen wie Twitter, Facebook und Google verstärkt in die Verantwortung nehmen, um sicherzustellen, dass Onlinebetreiber ihre Nutzer vor Falschinformation besser schützen. Eine der essenziellsten Erkenntnisse aus Desinformationskampagnen im Zusammenhang mit der Covid-19-Krise umfasst jedoch das gewonnene Bewusstsein über die Gefahren koordinierter Angriffe, welche auch im Kontext der nationalen Sicherheit betrachtet werden müssen. Informationsoperationen treten nämlich nicht willkürlich auf, sondern werden präzise auf andere Instrumente der hybriden Bedrohungen abgestimmt, vor allem auf Cyberangriffe.

Zudem deutet der derzeitige Trend auf eine weitere Intensivierung der hybriden Kriegsführung hin. Bereits heute machen über 80 Staaten weltweit von Desinformationskampagnen und Informationsoperationen Gebrauch und testen dabei die Grenzen ihrer subversiven Einflussnahme in einem rechtlich kaum regulierten Raum aus. Hinzu kommen sogenannte Deepfakes – manipuliertes Video- und Tonmaterial, welches Personen in falschen Situationen zeigt und mit bloßem Auge kaum von wahrheitsgetreuen Aufnahmen unterschieden werden kann. Dank fortgeschrittener Elemente der künstlichen Intelligenz ist es sogar möglich, verfälschte Videos in Echtzeit zu übertragen, beispielsweise während Online-Konferenzen. Die Linien zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmen immer mehr, wodurch die Beeinflussbarkeit der Gesellschaft steigt oder diese mit purer Gleichgültigkeit reagiert.

Sicherheitspolitische Herausforderungen erfordern europäischen Zusammenhalt

Der feindselige Einsatz neuer Technologien öffnet hybride Gefahren für die europäische Zivilgesellschaft und Politik, auf welche wir unzureichend vorbereitet sind. Es bedarf einer engeren gesamteuropäischen Zusammenarbeit zur Stärkung der inneren Resilienz sowie parallel dazu einer erweiterten Bedrohungswahrnehmung der sicherheitspolitischen Akteure zur Entwicklung von Abwehrmechanismen. In diese Prozesse müssen politische, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure gleichermaßen eingebunden werden. Der zeitlose Grundsatz "Wissen ist Macht" bleibt nach wie vor gültig. Er muss jedoch erweitert werden, denn die gezielte Verbreitung von Unwissen ist ebenfalls Macht. (Michael Zinkanell, 11.6.2021)