Österreich ist ein unbekanntes Diabetesland. Die Diabetes-Sterblichkeit ist seit 2000 um 70 Prozent gestiegen.

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Diabetes ist nahezu jedem ein Begriff. Von Prädiabetes haben aber nur die wenigsten gehört. Ist der Blutzucker zu hoch, sprechen Medizinerinnen und Mediziner von Prädiabetes – der Vorstufe zu Diabetes. Das Problem daran: Symptome gibt es nicht, nur Hinweise auf den "versteckten Zucker".

Rund 700.000 Österreicherinnen und Österreicher dürften Schätzungen zufolge an dieser chronischen Stoffwechselerkrankung leiden – weitere 350.000 an der Vorstufe. Die Dunkelziffer dürfte aber weit höher liegen. Konkrete Zahlen gibt es allerdings nicht, da Österreich über kein nationales Register verfügt, das die aktuellen Zahlen abbildet.

Zufallsdiagnose

"Wir gehen davon aus, dass bis zu 20 Prozent der Menschen von der Erkrankung noch nichts wissen und dadurch unbehandelt und unbewusst auf lebensgefährliche Folgeerkrankungen zusteuern", erklärt Harald Sourij von der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie an der Med-Uni Graz. Immer noch viel zu oft werde Diabetes erst dann als Zufallsdiagnose gestellt, wenn Patientinnen oder Patienten wegen Folgeerkrankungen im Spital aufgenommen werden. Nicht umsonst wird sie als "versteckte Volkskrankheit" bezeichnet.

Gerade in der Pandemie erwies sich der "versteckte Zucker" in unserer Blutbahn als lebensgefährliches Problem – als wäre die Krankheit für sich nicht schon für Betroffene schwer genug. Bei vielen Covid-Patientinnen und -Patienten mit schweren Verläufen konnte ein kausaler Zusammenhang mit erhöhten Zuckerwerten festgestellt werden. Wobei Menschen mit Diabetes gleichermaßen betroffen waren wie Prädiabetikerinnen und -diabetiker.

Immer mehr Betroffene

Die Sterblichkeit aufgrund der Folgen ist seit dem Jahr 2000 um 70 Prozent gestiegen. Auch die Rate der Fuß- oder Beinamputationen ist extrem hoch. Der OECD zufolge liegt Österreich bei 14 Fuß- oder Unterschenkelamputationen pro 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Dazu im Vergleich: Der OECD-Durchschnitt liegt bei sechs pro 100.000.

Auf Basis internationaler Daten leiden etwa sechs Prozent der Erwachsenen unter der Vorstufe der Zuckerkrankheit. Während bei Frauen eine gestörte Glukosetoleranz überwiegt, ist es bei Männern ein erhöhter Nüchtern-Glukosewert. Fakt aber ist: Prädiabetes wird viel zu selten erkannt, und noch viel weniger wird gegengesteuert. Bleibt er aber unbehandelt, führt das bei 37 Prozent der Betroffenen binnen vier Jahren zu einer manifesten Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus).

Schon die Vorstufe kann gesundheitliche Schäden verursachen, die als Folgeerkrankungen des manifesten Diabetes bekannt sind. Studien zeigen: Würde er diagnostiziert und therapeutisch begleitet, könnten nicht nur viele Diabeteserkrankungen verhindert, sondern auch ein breites Spektrum von Folgen vermieden oder vermindert werden.

Früherkennung möglich?

Eindeutige Vorzeichen gibt es keine. Zuckerkrankheit in der Familie, aber auch Diabetes während einer Schwangerschaft könnten ein Vorzeichen sein. Ein weit verbreiteter Risikofaktor ist Übergewicht. Menschen mit großem Bauchumfang sollten sich deshalb bei Hausärztinnen und Hausärzten auf Verdacht untersuchen lassen.

Ab einem Taillenumfang von 102 Zentimetern beim Mann beziehungsweise 88 Zentimetern bei einer Frau ist das Risiko deutlich erhöht. Als Prädikator für Diabetes mellitus ist bei Frauen ein Bauchumfang wesentlich konkreter als der Body-Mass-Index. Ab dem 45. Lebensjahr und bei positiver Familienanamnese steigt das Risiko. Die höchste Prävalenz hingegen findet sich bei den 65- bis 74-Jährigen – wegen der abnehmenden Insulinsensitivität.

Der entscheidende Messwert im Blut ist der HbA1-c-Wert, der allerdings nicht in der regulären Gesundenuntersuchung enthalten ist. Mediziner appellieren bereits seit Jahren an die Entscheidungsträger, diesen Richtwert miteinzubeziehen. Der Wert zeigt einen chronisch erhöhten Blutzucker an. Würde der HbA1-c-Wert Teil der Gesundenuntersuchung, dann könnte das die Dunkelziffer der Zuckerkranken massiv reduzieren – und damit langfristig schwerwiegende Folgeerkrankungen vermeiden. Der Nüchternzucker ist jedenfalls nicht aussagekräftig genug, sagen Experten.

Aufholbedarf in der Medizin

Expertinnen und Experten auf dem Gebiet kritisieren aber nicht nur den Mangel an Richtwerten im Zuge von Blutuntersuchungen, sondern vor allem die "sehr lückenhafte Datenlage", wie es seitens der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) in einem Pressegespräch am Donnerstag heißt. Denn die Covid-19-Pandemie hätte uns drastisch vor Augen geführt, wie wichtig und notwendig eine solide Datenbasis zur Behandlung einer Krankheit ist, erklärt Susanne Kaser, Diabetologin an der Med-Uni Innsbruck und Präsidentin der ÖDG.

Inzidenzen, Positivraten, Übersterblichkeit, Bettenauslastung: Während der Covid-Pandemie wird laufend mit Statistiken argumentiert. Dabei sind die uns vorliegenden Daten nicht so gut, wie sie sein könnten – das kritisierten in den vergangenen Monaten Epidemiologen, Virologinnen, Public-Health-Experten ebenso wie Komplexitätsforscher und Gesundheitsökonominnen. Ein besseres Datenmanagement hingegen hätte immense Vorteile für das Gesundheitssystem, vor allem aber auf die Prävention von Erkrankungen, und könnte maßgeblich zu politischen Entscheidungen beitragen.

Proaktiv statt reaktiv

Dafür bräuchte es aber eine nationale Strategie und eine systematische Sammlung von Daten, sagen Expertinnen und Experten. Beides gibt es – nicht nur in Österreich – bisher allerdings nicht. Schon die konkrete Zahl betroffener Menschen in Österreich konnte bisher nur anhand von Zahlen der International Diabetes Federation (IDF) geschätzt werden, erklärt Harald Sourij.

Seit vielen Jahren fordert die ÖDG eine "flächendeckende Datenerfassung", um für Patientinnen und Patienten "eine optimierte Behandlung und für das Gesundheitssystem eine wesentlich effizientere Ressourcenplanung möglich zu machen", heißt es.

Gegensteuern will man im ersten Schritt mithilfe einer Studie zur Erfassung der Prävalenz von unbekanntem Diabetes und Prädiabetes sowie des Versorgungsstandards bei Menschen mit bekanntem Typ-2-Diabetes. Insgesamt werden 2.500 Patientinnen und Patienten in der Studie erfasst. Das Ziel: Aufbau eines bundesweiten Datennetzwerks, in dem alle Diabetes-relevanten Daten österreichweit erfasst und auch langfristig, die Verläufe berichtet werden. (Julia Palmai, 10.6.2021)