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In Algier säumen Wahlplakate die Straßen.

Foto: AP/Toufik Doudou

Massive Polizeigewalt gegen Demonstrationen, Verhaftungen und strafrechtliche Ermittlungen gegen Aktivisten und Aktivistinnen, Verbotsverfahren gegen Oppositionsparteien und eine NGO, die Rückkehr der Folter und sogar Terrorismusvorwürfe gegen Journalisten: Schon seit Wochen intensivieren Algeriens Behörden die Repressalien gegen Opposition und Protestbewegung – im Land meist Hirak (Arabisch für "Bewegung") genannt.

Diese zieht schon seit Februar 2019 hartnäckig für tiefgreifende politische Reformen und ein Ende der Militärherrschaft durch Algeriens Straßen, steht derzeit aber so heftig unter Druck wie nie zuvor. Grund für die anhaltende Repressionswelle: Algeriens autoritäre Staatsführung will am Samstag ein neues Parlament wählen lassen und Störversuche des Hirak um jeden Preis unterbinden.

Schon seit dem durch den Druck der Straße erzwungenen Rücktritt von Ex-Präsident Abdelaziz Bouteflika im April 2019 versucht das heute unangefochten vom Militär geführte Regime mit allen Mitteln echte Reformen zu verhindern und die Privilegien der Staatseliten zu verteidigen. Die hinter den Kulissen regierenden Generäle müssen dafür aber die Legitimität der formal das Land regierenden politischen Führung restaurieren. Das Einsetzen einer "gewählten" Legislative soll den Hirak nun endgültig in die Defensive drängen.

Boykott der Wahl

Ob das funktionieren wird darf, ist jedoch zweifelhaft. Sämtliche mit dem Hirak assoziierte Parteien boykottieren den Urnengang und mobilisieren schon seit Wochen gegen die intransparente Abstimmung. Der Pakt der demokratischen Alternative (PAD), ein Hirak-nahes Bündnis oppositioneller Parteien und NGOs, erneuerte Anfang Juni seinen Boykottaufruf und forderte die sofortige Freilassung aller politischen Häftlinge und ein Ende der Repressalien.

Der Ende 2019 in einer von Manipulationsvorwürfen überschatteten Abstimmung neu "gewählte" Präsident Abdelmajid Tebboune versucht derweil den Gegenwind herunterzuspielen. Der Hirak habe seine Legitimität verloren, eine Mehrheit der Bevölkerung sei nicht gegen die Wahl, sagte er letzte Woche der französischen Tageszeitung "Le Point". Tebboune verweigere sich dem "Diktat einer Minderheit".

Proteste gewaltsam aufgelöst

Neu ist diese Rhetorik keineswegs. Schon bei der Präsidentenwahl 2019 ließ das Regime den Polizeiapparat auf Hirak-Proteste einknüppeln, während Regimevertreter von einer schweigenden, die Regierung unterstützenden Mehrheit schwadronierten.

Der entscheidende Unterschied zu jener Abstimmung ist jedoch die Präsenz des Hirak auf den Straßen. Während 2019 noch landesweit und täglich Demonstrationen stattfanden, hat das Regime dieses Mal frühzeitig die Repressalien intensiviert und geht schon seit März gewaltsam und eskalierend gegen Proteste vor. Im Mai gelang es der Polizei erstmals, die jeden Dienstag stattfindenden Studierendenproteste aufzulösen. Seit zwei Wochen können auch die Sternmärsche in der Hauptstadt Algier nicht mehr stattfinden, da Polizeikräfte schon an den Versammlungsorten der Proteste hart eingreifen und somit das Entstehen von Demonstrationszügen im Keim ersticken.

Über 200 politische Gefangene

Das Regime macht Ernst und will die 2019 aufgerissene Büchse der Pandora nun endgültig wieder schließen. Die Anzahl der politischen Häftling ist inzwischen auf 217 angestiegen, so das Aktivistenkollektiv Komitee zur Befreiung der Gefangenen (CNLD). Immer öfter berichten derweil Inhaftierte, in Polizeigewahrsam geschlagen, bedroht, sexuell misshandelt oder anderweitig malträtiert worden zu sein. Vor einer Rückkehr der während des Bürgerkrieges der 1990er Jahre praktizierten Folterpraktiken des Polizeiapparates wird daher schon seit Wochen lautstark gewarnt.

Die Alarmglocken schrillen derzeit auch, da die Behörden inzwischen versuchen, oppositionelle Organisationen verbieten zu lassen. Während zwei mit dem Hirak verbündeten Parteien ein Verbotsverfahren droht, hat die Regierung eine Auflösungsklage gegen den während der Hirak-Proteste äußerst aktiven Jugendverband RAJ eingereicht. Die Journalisten Said Boudour und Jamila Loukil, der Gewerkschaftler Kaddour Chouicha und neun Demonstranten müssen sich derweil vor einem Gericht in Oran wegen fadenscheiniger Terrorismusvorwürfe verantworten.

Die Strategie des Regimes ist klar: Es nutzt die jüngst eher schwache Mobilisierung des Hirak auf den Straßen eiskalt aus und will dem revolutionären Spuk endgültig den Garaus machen. Einzig in der Kabylei wird weiter munter demonstriert. (Sofian Philip Naceur, 11.6.2021)