"Ask me how I feel", singt die Künstlerin im Einstiegssong. Damit ist der Ton vorgegeben.

Polyfilm

Vom Filmplakat wirft Tina Turner uns einen Abschiedskuss zu. Genau das soll die von der Künstlerin abgesegnete HBO-Dokumentation Tina auch sein, ein Abschied von ihren Fans und der eigenen Lebensgeschichte. Im dunklen Hosenanzug und mit gebändigter Frisur übernimmt die 81-jährige Sängerin die Rolle der Erzählerin und vertraut dem oscarprämierten Dokumentaristenduo Daniel Lindsay und T. J. Martin die Aufgabe an, ihre Lebensgeschichte narrativ zuzuspitzen und mit viel Archivmaterial und wenig "Talking Heads" auszuschmücken.

"Ask me how I feel", singt die Künstlerin im Einstiegssong, mal fordernd, mal flehend. Damit ist der Ton vorgegeben. Tina Turner wirft einen letzten Blick zurück auf die schwierigste Phase ihres Lebens, die 17 Jahre Beziehung zu Ike Turner und die Folgen, die das Publikmachen der Missbrauchsgeschichte Anfang der 1980er-Jahre für die Künstlerin hatte. Ike & Tina bedeutet aber auch: tolle Archivaufnahmen energiegeladener Bühnenshows mit der jungen, tanzenden Tina und den Ikettes. Allein deshalb widmet die Doku dem frühen Abschnitt ihres Lebens über die Hälfte der Zeit.

Meist aus dem Off

Von den vielen hinter der offiziellen Fassade stattfindenden gewalttätigen Übergriffen Ikes, aber auch von der lieblosen Beziehung zu ihrer Mutter berichtet Tina mal aufgewühlt, mal gefasst meist aus dem Off. Bebildert wir das wahlweise mit Fotografien des Paares, aus denen man etwas herauszulesen vermeint, oder mit langsamen Kamerafahrten über mutmaßliche Tatorte (das Haus in Los Angeles), in weniger starken Momenten dienen Telefonapparate oder Kassettenrekorder als Bildfüller.

Ob Ikes Gewalttätigkeit beim Scheidungsprozess 1976 thematisiert wurde, erfährt man nicht. Dort geht er als Gewinner hervor, während Tina nur den Bühnennamen behält. Diesen hatte Ike – fasziniert von der Titelheldin im Comic Sheena, Königin des Dschungels – der als Anna Mae Bullock geborenen Sängerin gegeben.

Gegen alle

Mit ihrer Solokarriere in den 1980er-Jahren schafft es Tina Turner, nicht nur Ike zu überflügeln, sondern auch die rassistische Logik zu unterlaufen, die lange Zeit die Rockmusik prägte: Anstatt wie Nina Simone mitansehen zu müssen, wie weiße Bands ihre Songs zu Rockhits machten, machte sie Rock zu ihrer Sache und damit zu der Sache einer über vierzigjährigen afroamerikanischen Frau. Gegen alle und wegen aller Widerstände wird sie zum Idol, auch befeuert durch die frühe Veröffentlichung ihrer Lebensgeschichte, I, Tina.

Tiefere Einblicke in ihr musikalisches Schaffen gewinnt man in der aktuellen Dokumentation jedoch kaum – das Trauma wiegt schwerer als die Musik. Tina, der Film, bedient sich damit paradoxerweise jenes Narrativs, dem Tina, die Person, beständig entfliehen möchte. Doch es geht genau darum, dieses Paradox auszuhalten.

Nicht unbeschadet

Denn selbst wenn man Simply the Best im Abspann als einen Triumph empfinden kann, weiß man jetzt, dass die an Resilienz kaum zu übertrumpfende Rockikone ganz und gar nicht unbeschadet aus ihrer traumatischen Erfahrung auferstanden ist. Der Missbrauch ist Teil ihrer Realität. Und an der führt bekanntlich nichts vorbei. Tina Turner hat rassistische Logiken unterlaufen und in den 1980er-Jahren eine der erfolgreichsten Solokarrieren im Rockbusiness hingelegt. (Valerie Dirk, 11.6.2021)