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In Tigray werden derzeit von dort ansässigen Organisationen Weizenrationen verteilt.

Foto: AP / Ben Curtis

Mekelle / Addis Abeba / Genf – In Äthiopien ist einer detaillierten Studie der Vereinten Nationen zufolge eine Hungerkatastrophe ausgebrochen. Mehr als 350.000 vor allem in der Bürgerkriegsprovinz Tigray, aber auch in zwei angrenzenden Provinzen lebende Menschen befinden sich inzwischen in "Phase 5", der schlimmsten Kategorie einer von humanitären Organisationen benützten Klassifizierung, der "Integrated Food Security Phase Classification" (IPC). Sie bedeutet, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung an Hunger leidet und bereits Menschen verhungern.

Die katastrophale Ernährungskrise sei die Folge des in der Tigray-Provinz seit acht Monaten anhaltenden Konflikts: Er habe "die Vertreibung der Bevölkerung sowie die Einschränkung ihrer Bewegungsfreiheit, die Behinderung des Zugangs humanitärer Organisationen, Ernteverluste und zusammengebrochene Märkte" ausgelöst", heißt es in der jüngst veröffentlichten Studie. Die Situation könne sich zur "weltweit schlimmsten Hungersnot seit einem Jahrzehnt ausweiten", kommentierte der UN-Koordinator für humanitäre Angelegenheiten, Mark Lowcock: Es sei damit zu rechnen, dass die Katastrophe "noch wesentlich schlimmer" werde.

Noch nicht als Hungersnot deklariert

Offiziell erklärte die UN die Situation in Äthiopien bislang noch nicht zur Hungersnot: Dies geschieht erst, wenn mehr als 20 Prozent der Bevölkerung einer Region vom Hungertod bedroht sind. Die starre Definition wird von einzelnen Verantwortlichen wie Lowcock allerdings abgelehnt: "In Tigray herrscht jetzt schon eine Hungersnot", sagte der humanitäre Koordinator der UN am Donnerstag. "Alarmierende neue Daten" hätten das "besorgniserregende Ausmaß der Ernährungslage in Tigray" bestätigt, sagte auch der Chef des Welternährungsprogramms (WFP), David Beasley.

Die äthiopische Regierung, eine der Kriegsparteien in Tigray, wies den Bericht der humanitären Organisationen zurück. Ihrer Auffassung nach gibt es in Tigray keine Hungerkatastrophe: Die Lieferung von Nahrungsmittelhilfe reiche aus, die Hilfsorganisationen übertrieben den Ernst der Lage, heißt es in Addis Abeba. Umgekehrt wird der Regierung unter dem vor eineinhalb Jahren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Abiy Ahmed vorgeworfen, die Hungersnot in Tigray provoziert zu haben. Sowohl äthiopische Soldaten wie deren eritreische Verbündete sollen die Zivilbevölkerung am Bestellen der Felder gehindert, Ernten niedergebrannt und Nahrungsvorräte geplündert haben, berichten Reporter aus der Kriegsprovinz. Den einmarschierenden Truppen werden außerdem schwere Menschenrechtsverletzungen – wie Massaker, Massenvergewaltigungen und Folterungen – zur Last gelegt.

Guerillakrieg in den Bergen

Nachdem sich die Spannungen zwischen der Zentralregierung in Addis Abeba und der Provinzregierung in Tigray zunehmend verschlechtert hatten, waren Anfang November sowohl äthiopische wie eritreische Truppen in Tigray einmarschiert und hatten innerhalb von drei Wochen einen Großteil der Provinz eingenommen. Vielen Soldaten der gegnerischen Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF) zogen sich jedoch in die Berge zurück, von wo sie seitdem einen Guerillakrieg führen. Tausende von Zivilisten wurden in dem Konflikt bereits getötet, fast zwei Millionen Menschen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Abiy wirft der TPLF vor, Äthiopien in den vergangenen zwei Jahrzehnten ihren eigenen Interessen unterworfen zu haben.

Die jetzige Hungersnot ist die erste in Äthiopien seit der Katastrophe Mitte der 1980er-Jahre, der mehr als eine Million Menschen zum Opfer fielen. Das Epizentrum der damaligen Hungersnot war ebenfalls Tigray: Fernsehbilder von dem Massensterben lösten in aller Welt Entsetzen aus, mit seiner Kampagne "Band Aid" mobilisierte der irische Rocksänger Bob Geldof die Weltöffentlichkeit und sorgte für eine Spendenflut. Demgegenüber stößt die derzeitige Hungersnot nur auf begrenzte internationale Aufmerksamkeit. (Johannes Dieterich, 11.6.2021)