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Luft, Sonne und Sand: All das bleibt dem Busen vorenthalten. Ein neuer Oben-ohne-Trend ist nicht in Sicht.

Foto: AP / Rich Beauchesne

Die große Freiheit kam Ende der 1980er-Jahre. Damals wurden in den Wiener Freibädern und an etlichen Stränden in Europa Oben-ohne-Verbote nach und nach aufgehoben. Viele Frauen legten das einzwängende Bikini-Oberteil ab – oder rollten den damals noch weitverbreiteten Badeanzug kurzerhand bis an die Hüfte runter. Ein wenig Sonnenöl ganz ohne Sonnenschutzfaktor, fertig: Der Busen durfte endlich an die Sonne und die Luft, die Prüderie schien endgültig besiegt.

Und wie sieht es heute aus? Verblüffend anders. Oben ohne ist in Freibädern oder an Seestränden kaum mehr zu sehen. Stattdessen feiern Badeanzüge und an langärmlige Shirts erinnernde Rashguards ein Revival, wird der Busen wieder weitgehend von Bikinistoff bedeckt.

Weshalb verschwindet die Oben-ohne-Kultur zusehends? Warum bedeckt das Gros der Frauen die Brüste wieder mit Oberteilen, die selten bequem sind – wenn es doch auch anderes ginge? Ein Erklärungsversuch in sechs Thesen:

These 1: Neue Schönheitsideale

Ja, es gibt die Body-Positivity-Bewegung, die – durchaus gut gemeint – suggeriert, dass man jeden Körper schön finden und seine Makel mit nur ausreichend Willen durchaus lieben lernen kann. Doch auch wenn diese Botschaft auf Werbeplakaten und von Influencern immer öfter strapaziert wird: Die Aufforderung, den eigenen Körper so zu lieben, wie er ist, änderte wenig daran, dass im Laufe der letzten Jahre immer mehr Körperstellen zur Dauerbaustelle erklärt wurden.

Die Brust von der Seite (#Sideboob), der Bauchnabel von vorn (#Bellybutton) oder der Po von hinten (#Belfie), ein "Thigh Gap", also der möglichst große Abstand zwischen den Oberschenkeln, oder die "Bikini Bridge", die im Liegen auf dem Rücken eine möglichst große Lücke zwischen Bikinihose und Bauch beschreibt –all das wird auf dem Selbstfindungsportal Instagram pittoresk flachbäuchig und vollbusig als jeweiliger Bodytrend des Sommers zelebriert.

Nicht nur die britische Psychoanalytikerin Susie Orbach attestiert der Gegenwart aufgrund sozialer Medien überbordernde Anforderungen an unsere Körper. Auch die Kulturwissenschafterin Elisabeth Lechner, die zu "Affect and Body Studies" forscht, ortet ein vereinheitlichtes Schönheitsbild: "Trainiert, aber an den richtigen Stellen kurvig, praller Hintern und schöner, fester Busen."

Instagram-Bilder vom straffen Busen junger Fitness-Influencerinnen oder ein Nacktfoto der Schauspielerin und Wellnessunternehmerin Gwyneth Paltrow zu ihrem 48. Geburtstag sorgen schnell dafür, dass Mädchen und Frauen das Gefühl haben, ihr Körper sei nicht gut genug. Wer will schon die möglicherweise nicht mehr ganz so straffe oder von Schwangerschaftsstreifen gezeichnete Brust freilegen, wenn sie nicht als Insta-Ideal taugt?

These 2: Die Brustzensur

Selbst wenn sich die Gesellschaft auf sozialen Medien so zeigefreudig wie nie gibt: Digitalkonzerne haben ein Problem mit dem Busen. Die Gemeinschaftsrichtlinien von Facebook und Instagram spiegeln das wider. Verboten sind "Bilder mit weiblichen Brüsten, wenn darauf Brustwarzen zu sehen sind". In diversen "sexy Posen" ist er also grundsätzlich kein Problem – so lange kein Nippel blitzt.

Nach heftigen Protesten gegen diese Zensur gibt es seit März ein paar Ausnahmen: Erlaubt sind nun zumindest Fotos beim Stillen oder nach einer Entbindung, auf denen eine weibliche Brustwarze zu sehen ist.

Doch ein Busen, der einfach nur da, einfach nur nackt ist? Wird gelöscht. So wird die weibliche Brust allen feministischen Fortschritten zum Trotz weiterhin zum Sexobjekt reduziert.

Auch wegen solcher Vorgaben fühlen sich viele Frauen ohne Oberteil nach wie vor nackter als Männer. Für die Kulturwissenschafterin Lechner ist klar: "Brüste als erotisches Kapital für kommerzielle Zwecke, gern! Ein selbstbestimmter Umgang mit dem eigenen Körper abseits von Heteromännerblicken? Eher nein."

These 3: Die neue Prüderie

Auch die prüde US-amerikanische Popkultur verkauft uns oben ohne als No-Go. Lässig oben ohne in Filmen und Serien? Nichts da. Man denke nur an Serienklassiker wie Sex and The City, in denen die Frauen selbst beim Sex einen BH tragen. Mit dem hiesigen Konsum von US-amerikanischer Popkultur könnte auch ein Export eines puritanischen Umgangs mit Sex und Nacktheit zusammenhängen, vermutet Elisabeth Lechner.

These 4: Das Spannertum

Im Vergleich zu früheren Jahren ist das Paparazzitum zum Alltag geworden. Dank Smartphones können wir ständig und überall fotografiert werden. Die Kontrolle von mehr als 10.000 fotofähigen Smartphones an einem schönen Badetag, das sei nicht möglich, sagt Martin Kotinsky von den Wiener Bädern über die Kamerapräsenz in einem großen Freibad. Ohne es zu wissen, barbusig fotografiert zu werden? Für viele sicher kein gutes Gefühl.

These 5: It’s fashion!

Es liegt nicht im Interesse der Modeindustrie, ein Kleidungsstück einfach zu streichen, im Gegenteil. Große Aufmerksamkeit gab es anno 1964 für einen Vorschlag des Designers Rudi Gernreich: Eine taillierte Hose, die bis über den Nabel reichte. Vom oberen Saum gingen zwei Nackenschnüre weg, der Busen blieb frei. Das Teil setzte sich wenig überraschend nicht durch – doch aktuell erinnert ein neuer Bademodentrend frappant an das Design.

Auf Bikini-Selfies zeigen sich Stars von Reality-TV-Star Kim Kardashian bis zur Musikerin Lizzo in "Wrap Around Bikinis", bei denen die langen Bänder des Oberteils um Bauch und Hüfte gewickelt werden. Statt weniger propagiert die Modewelt den Hang zu noch mehr Stoff.

Hinzu kommt: Das Gros der Bikini-Oberteile soll die Brüste pushen, ist also gepolstert und saugt kräftig Wasser auf. Statt Leichtigkeit durch oben ohne zu gewinnen, drücken viele Frauen erst einmal ihre Brüste wie Schwämme aus, wenn sie aus dem Wasser kommen – damit sich die Polster nicht ganz so schwer anfühlen.

These 6: Der Busen ist politisch

Brüste wurden im Laufe der Geschichte entweder sexualisiert oder auf eine Nahrungsquelle für die Nachkommen reduziert. Abseits davon existierten sie praktisch nicht. 2012 wurde der Busen zum Instrument des feministischen Protestes: Unter dem Motto "Free the Nipple" demonstrierten Frauen in den USA halbnackt gegen Doppelstandards in Sachen Nacktheit. Auch die ukrainische Gruppe "Femen" protestierte stets barbusig und machte so den Busen zum Symbol eines Kampfes um Frauenrechte. Oben ohne steht somit heute eher für harte politische Arbeit denn für entspanntes Abhängen im Freibad.

Aber vielleicht wird es ja noch, der Sommer hat schließlich erst begonnen. (Beate Hausbichler, 12.6.2021)