Wenn ich mir für die Literatur etwas wie Utopien denken kann und wenn ich als Schreibender welche ins Werk zu setzen gewillt bin, dann diese Kinderspielplatzutopien.

Foto: APA / dpa / Julian Stratenschulte

Vor bald 15 Jahren wurde meine Tochter geboren. Oft, fast täglich, bin ich mit ihr auf die Spielplätze gegangen, auf den zwischen unserem und dem nächsten Wohnblock, auf solche in Parks, in Städten, in Asien wie in Europa. Ich habe diese Spielplätze geliebt, das Am-Rand-Sitzen, das bloße Schauen, die lockeren Gespräche mit Eltern, fast immer Müttern.

Zwei oder drei Jahre lang konnte ich, wenn wir unterwegs waren, kaum an einem Spielplatz, war er noch so bescheiden, vorbeigehen, ohne dass sie ihren Kopf durchsetzte, zum Sandkasten oder zur Schaukel lief.

Auf solchen Plätzen findet die spontanste Vergesellschaftung statt. Man hilft sich gegenseitig, fragt nicht lange, braucht dazu keine Chefs und keine Untergebenen, keine Strukturen und Institutionen. Wenn vor meinen Augen ein Kind hinfällt, laufe ich hin, richte es auf, tröste es. Das ist normal.

Einmal, in Paris, waren wir auf einem altehrwürdigen Platz mit Sandkästen, Kastanienbäumen und einer Reiterstatue in der Mitte, der mir aus meinen Pariser Jahren vertraut war. Meine Tochter spielte mit zwei Geschwistern ihres Alters – die Zwei- bis Dreijährigen spielen ja noch eher neben- als miteinander –, während ich mit deren Vater plauderte.

Überraschend um diese Uhrzeit bekam meine Tochter Hunger, und ich fragte den Mann, ob er mit den seinen noch eine Weile bleibe, ich würde etwas zu Essen besorgen und wäre in 15 Minuten zurück. Er beruhigte mich, ich müsse mich nicht eilen. Als ich zurückkam, fand ich weder ihn noch die Kinder vor, auch nicht meine Tochter.

Ich durchlebte eine verzweifelte Ewigkeit, die nur ein paar Minuten dauerte, in denen ich auf dem stark besuchten Platz hin und her lief und auf den Wiesen Lagernde nach dem Mädchen fragte. Eine ähnliche Situation hat Peter Handke in Die Stunde der wahren Empfindung beschrieben; natürlich erinnerte ich mich später daran. Ich schrieb eine kleine Erzählung darüber und gab ihr den Titel Kindverlustgeschichte.

Plötzlich alles weg

"You don’t know what you’ve got till it’s gone": Das gilt nicht nur für Kinder, es gilt auch für die Gesellschaft, für die Gruppen, in denen wir uns bewegen, für Gewohnheiten und Institutionen. In der Zeit der Corona-Epidemie war das plötzlich alles weg, oder sehr reduziert, und so gut wie alle vermissten es. Die Kinder vermissten den Kindergarten, die Schule (auf die sie so oft geschimpft hatten).

In Japan, wo meine Tochter geboren wurde und aufgewachsen ist, wurden die Schulen nur kurze Zeit geschlossen, man hat das zu dieser Zeit zu Ende gehende Schuljahr etwas früher abgeschlossen und stattdessen die so oder so viel zu kurzen Ferien verkürzt. Die Klassenzimmer sind voll besetzt, Sport wird ausgeübt, Basketball genauso wie Kampfsport mit ständigem Körperkontakt. Das alles unter Berücksichtigung der sanitären Vorsichtsmaßnahmen.

Von einem Infektionsherd an einer Schule ist mir nichts zu Ohren gekommen, und auch sonst, in der "großen" Gesellschaft, wo distanziertes Verhalten seit jeher die Regel und Sicherheitsdenken tief verwurzelt ist, sind wir relativ glimpflich davongekommen.

Etikett "half"

Genau in dieser Zeit wurde meine Tochter zum ersten Mal in ihrem Leben gemobbt. Sie hat eine japanische Mutter und einen österreichischen Vater, in Japan bekommt so jemand das Etikett "half" aufgeklebt.

Sie bewegt sich gern in der Gesellschaft, was für sie heißt: in der Schule und den Zonen, die die Schule kontrolliert und beeinflusst. Diese Geselligkeit besaß sie schon als Kleinkind; ich glaube, ich selbst hatte als Jugendlicher viel mehr antisoziale Impulse.

Sie wollte nie die Anführerin sein, hat aber die Anführerin gespielt, wenn eine gebraucht wurde, hat Vorschläge für die Gruppe gemacht, Entscheidungen getroffen, immer in den Bahnen, die hierzulande vorgegeben sind und die sich die Kinder, je größer sie werden, selbst geben – wobei es für mich erstaunlich ist, mit welcher Selbstverständlichkeit sie die hierarchischen Strukturen wiederholen, die bei den Erwachsenen gang und gäbe sind.

Lust an der Macht

Meine Tochter scheint nicht viel Lust an der Macht zu empfinden, genau wie ich selbst. Andere haben Lust daran, wieder andere sind Mitläufer, machen in den kleinen Gruppen mit, in den Subsystemen, die das System Schule zulässt und hervorbringt, oder sie bleiben Außenseiter oder sind unfähig, bei den Spielen so mitzuspielen, wie sie selbst es wollen.

Oder aber sie bleiben zu Hause, in ihrem Zimmer: Der Absentismus hat in Japan gewaltige Ausmaße angenommen. Der Hikikomori, also jene Figur, die sich, oft mitten in der Großstadt, schon als Jugendlicher radikal von der Gesellschaft abgeschlossen hat (Milena Michiko Flašar hat darüber einen Roman geschrieben), ist der einzige in Japan heute noch existierende Typus eines Gesellschaftskritikers; ein stummer antisozialer Typus, der meist nur in den Statistiken aufscheint, selten in der Literatur, kaum im sonstigen öffentlichen Diskurs.

Treibstoff der Gesellschaft

Was meine Tochter, die eher das Gegenteil dieses Typus verkörpert, langsam zu begreifen scheint, ist, dass überall Macht am Werk ist, gleichsam als Treibstoff der Gesellschaft, aber auch als Gift: als giftiger, aber scheinbar unverzichtbarer Treibstoff. Ich selbst habe lange, viel länger als sie, gebraucht, um das zu begreifen.

Für "Mobbing" sagt man in Japan "ijime", vielleicht am besten mit "Quälen, Quälerei" zu übersetzen. Ihre noch ganz frische Erfahrung machte sie in einem der Klubs, die von den Schülern gebildet werden: in erster Linie Sport, aber auch Kunst, Computer usw. Es gibt keinen offiziellen Zwang zur Teilnahme, wohl aber einen faktischen, weil Kinder, die sich verweigern, mit diversen Nachteilen zu rechnen haben.

Meine Tochter würde sich solchen sozialen Einrichtungen, solchen Subsystemen ohnehin nicht verweigern; bislang hat sie mit Begeisterung im Kendo-Klub mitgetan, wo ein alter Kampfsport mit Bambusschwertern ausgeübt wird. Sie gehört nicht zu den Besten, aber es macht ihr Spaß, und sie versucht, sich zu verbessern, ohne dass dieser Sport deshalb gleich ins Zentrum ihres Lebens rücken müsste.

Die Kendo-Anführerin

Jeder Klub hat einen Chef, eine Chefin. Unweigerlich bilden sich Strukturen heraus, und ich denke, dass in diesen Klubs niemals Gleichheit unter den Teilnehmern herrscht. Die einen haben eine gute Position, die anderen eine schlechtere, manche aber einen schweren Stand. Die Kendo-Anführerin ist in sportlicher Hinsicht sehr gut, im Schulunterricht weniger, aber durch ihre Position im Klub verfügt sie im gesamten Schulalltag über Einfluss, und die Lehrer nehmen darauf Rücksicht.

Meine Tochter ist manchmal etwas langsam; das dürfte der Grund gewesen sein, weshalb sie von der Anführerin gezwungen wurde, die schwere Kendo-Maske, eine Art Helm mit Visier, fünfzehnmal hintereinander aufzusetzen, abzunehmen, wieder aufzusetzen, was sie unter dem Gelächter der umstehenden Schüler tat, bis es ihr zu viel wurde und sie unter Tränen abbrach.

So etwas kommt vor. Meine Tochter ist stark genug, um es zu verkraften. Die Reaktion der Lehrer war aber so, dass sie zwanghaft nach einem Ausgleich, einer Verständigung suchten. Das Opfer wird wohl auch irgendeine Schuld haben, wird insinuiert, und diese Schuld gilt es herauszustellen. Die Mächtige wurde nicht zur Rechenschaft gezogen.

Untätigkeit der Autoritätspersonen

Abstrakt wird Mobbing natürlich verworfen, die Lehrer sind angehalten, das Nötige zu tun, damit es nicht vorkommt. Es werden Umfragen veranstaltet mit ausgeklügelten Fragebögen, die die Schüler ausfüllen müssen: Hast du jemanden gemobbt? Bist du gemobbt worden? Aber wenn es wirklich dazu kommt, bleiben die Autoritätspersonen untätig.

Vor zwei oder drei Jahren gab es in Chiba, in der Nähe von Tokio, einen Fall, da wurde ein Mädchen von ihrem Vater regelmäßig schwer misshandelt. Sie schrieb das in den Fragebogen, die Information wurde an eine zuständige Stelle im Rathaus weitergeleitet, der Vater, ein gewalttätiger Mann, zaghaft kontaktiert.

Er beschwerte sich über das Verhalten der Schule und verlangte, den Fragebogen zu sehen, den seine Tochter ausgefüllt hatte. Seinem Verlangen wurde stattgegeben; wenige Tage später war das Mädchen tot. Es starb im Alter von zehn Jahren.

Moralische Standards

Man könnte einwenden, das sei halt so in Japan, einem im Guten wie offenbar auch im Schlechten fremdartigen Land. Die Hierarchisierung der Gesellschaft, konfuzianische Strenge, Doppelzüngigkeit und Schweigepflichten würden Mobbing eben begünstigen. Stimmt, aber in dieser mehr und mehr globalisierten Welt, an der sich Japan erklärtermaßen beteiligen will, sind auch die alltäglichen Verhaltensweisen, die Sozialisierungsformen, die moralischen Standards global.

Japan tritt im Konzert der Nationen als Musterschüler auf, der alles noch besser als gut machen will, und ist insofern eher Vorreiter als Ausnahmeerscheinung. Vieles von dem, was ich hier beobachte, kommt mir ähnlich aus ganz verschiedenen Weltgegenden zu Ohren. Mich persönlich, und das heißt: mich als Schriftsteller, interessieren die konkreten Erscheinungen, das Alltägliche, das Normale oft eher als das Ungewöhnliche, die kleinen Dinge mehr als die großen.

Nicht nur das, was mich ärgert, sondern auch Positives, Gesellschaft in statu nascendi, die Art, wie man sich zum Beispiel um den Kinderspielplatz trifft, wie man sich dort bespricht und wechselseitig hilft. Wenn ich mir für die Literatur überhaupt etwas wie Utopien denken kann und wenn ich als Schreibender welche ins Werk zu setzen gewillt bin, dann diese kleinen, die Kinderspielplatzutopien.

Sicherheitsdenken

Freilich, in meinem nächsten Umfeld höre ich, "die da" – eine Mutter, die berufliche Interessen weiterzupflegen versucht – würde andere ausnützen, wenn sie ihr Kleinkind für ein paar Stunden bei einer Nachbarsfamilie ließe (was die Kinder nur freuen würde). Wenn schon, dann Gleiches mit Gleichem. Das Rechnen beginnt.

"Die da", heißt es, nützt die Gesellschaft aus. Und wenn schon, dachte ich, ich helfe ihr gern. Aber nichts da, außerhalb des großen Systems hilft man einander nicht. Wo keine Regeln und Vorschriften bestehen, geschieht nichts. Das Land ist mittlerweile von Regeln, Vorsichtsmaßnahmen, Zukunftsplanung und Sicherheitsdenken überwuchert.

Meine Tochter hat sich mit der Kendo-Chefin verständigt. Dieser Menschenschlag, scheint mir, wechselt sehr schnell von Feindseligkeit zu Freundschaft – "Freundseligkeit", besseres Wort –, und meine Tochter hat intuitiv die Einladung dieses Mädchens zu sich nach Hause abgewiesen, ohne es vor den Kopf zu stoßen: vielleicht ein andermal.

Sie ist etwas zurückhaltender geworden, und das ist gut so. Was sie erlebt hat, ist eine kleine Vertreibung aus der Utopie, dem Paradies, das sie auf selbstverständliche Weise bewohnt hatte. Gesellschaft, zumindest in größerem Maßstab, hat immer eine Geschichte solcher Vertreibungen hinter sich.

Ich glaube, dass es auch ein Zurück geben kann, nicht durch das Haupttor, sondern durch schmälere Pforten, vielleicht sind es nur Scharten, Spälte, Risse. Oder durch die Wand, will sagen: durch den Spiegel, wie Alice im Wunderland. (Leopold Federmair, ALBUM, 12.6.2021)