Ferdinand Lacina (links) und Marlene Streeruwitz im Foyer des Hotels Wandl in Wien, in dem das "Journal des Scheiterns" (von Stefan Gmünder und Martin Prinz) im Mai aufgezeichnet wurde.

Foto: Pavel Cuzuioc

Über das Scheitern wird, obwohl es die Voraussetzung des Gelingens ist, nur ungern geredet. Scheitern macht einsam, oft findet es im Verborgenen statt. In der Veranstaltungsreihe "Journal des Scheiterns" von Martin Prinz, Stefan Gmünder und Pavel Cuzuioc (in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Literatur) reden jeweils zwei Gäste aus der Kultur und anderen Lebensbereichen über Prozesse und Potenziale des Misslingens. Auszüge aus der zweiten Folge des "Journals" mit Marlene Streeruwitz und Ferdinand Lacina.

STANDARD: Das Journal des Scheiterns verdankt sein Motto einem Satz aus dem immer noch sehr lesenswerten Werk Ilse Aichingers, er lautet: "Alles geht unter, aber wie wir es gespielt haben, bleibt in der Luft."

Marlene Streeruwitz: Wenn wir schon scheitern wollen, würde ich hier jetzt gleich Einspruch erheben. Die Texte von Ilse Aichinger sind nicht immer noch gültig, sondern gerade gültig, immer gerade. Diese Texte schreiben sich fort und sind jeweils gültig in jedem Augenblick, in dem sie gelesen werden, und das ist die besondere Qualität dieser Autorin.

STANDARD: In Ihrem letzten Roman Flammenwand sinniert die Hauptfigur länger über das Scheitern einer Liebe. In anderen Romanen von Ihnen fanden wir das Wort "Scheitern" kein einziges Mal.

Streeruwitz: Ja ...

STANDARD: Ist das ein Zufall?

Streeruwitz: Ich würde das darauf zurückführen, dass ich ja scheitere, indem ich den Roman schreibe, ich beginne den absolut endgültigen Roman zu schreiben und muss am Ende feststellen, dass es wieder nicht gelungen ist – und ich damit die Möglichkeit habe, den nächsten zu schreiben. Dass die Zeit weiter fortschreitet, ist ein ziemlich wichtiger Aspekt, hätte ich das Endgültige geschrieben, was bliebe dann zu tun? Dieses ewige Scheitern thematisiert sich also im Roman. Der Roman selbst ist das Scheitern. Dann müssen es die Figuren nicht tun. Das wäre ja noch schöner, die Figuren auch noch damit zu belasten.

STANDARD: Scheitern wird von den anderen definiert, als verbotenes Wort erlebt.

Streeruwitz: Da würde ich jetzt einmal schauen, was Scheitern in unserer Kultur bedeutet. Zum Beispiel in der Schule, mich hat die Wiedereinführung der Noten für die ersten zwei Klassen verstört. Meine Beobachtung ist insgesamt, dass über dieses "Noten geben" in der spezifischen Form, wie das jetzt bei uns der Fall ist, Scheitern schon staatlich definiert, über die Person ausgesprochen wird. Und das halte ich für etwas unglaublich Zensurierendes, lebensbestimmend Zerstörendes.

Ferdinand Lacina: Ich kann mich sehr gut erinnern, in der vierten Klasse Mittelschule, wie es damals hieß. Ich bin in eine Realschule gegangen, die Empfehlung der Lehrer an die Eltern der sozial nicht besonders gut gestellten oder der einkommensmäßig nicht besonders betuchten Leute lautete: "Lassen S’ den Buben lieber was lernen, weil Sie werden sich später die Nachhilfe in der Oberstufe nicht leisten können." Das ist eine sehr klare Ansage. Das heißt, das Scheitern war nicht nur eine Frage der Noten, sondern auch eine Frage der materiellen Ausstattung des Elternhauses.

Streeruwitz: Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich hätte studieren dürfen, wenn es damals nicht die Studiengebührenbefreiung gegeben hätte. Ich komme aus einem Akademikerhaushalt, aber trotzdem war das für die Mädchen nicht selbstverständlich.

STANDARD: Wie war das für Sie, Herr Lacina, als sich der neoliberale Zeitgeist auch gegen die sozialdemokratischen Errungenschaften der 1970er-Jahre richtete?

Lacina: Was ich damals gespürt habe, war, dass man sehr stark in der Defensive ist, und ich kann mich erinnern, wie damals diese ganz idiotische Diskussion um die freien Schulbücher begann und gesagt wurde, die Kinder und die Familien hätten dann keinen Bezug mehr zum Buch, das zu einem Wegwerfbuch werde. Da tut man so, als ob man wirklich den Unterricht so organisieren könnte oder dass eine Familie mit drei Kindern mit einem Atlas auskommt. Das ist ja ganz einfach, nicht? Und ich muss sagen, da habe ich außerordentlich wenig Verbündete gefunden – selbst in meiner Gesinnungsgemeinschaft nicht.

Streeruwitz: Der Wert des Geists, der Wert der Person ist so gering. Das Kind ist nichts wert, das Kind, das ja diese Form ist, die beeinflusst wird. Und es wäre größte Aufmerksamkeit notwendig, hier demokratisch vorzugehen. Doch es gibt keinen Willen zu sagen: "Wie machen wir’s?", "Wie machen wir es am richtigsten?" im Gegensatz zu "Wie machen wir’s am strengsten?" Letzteres vermittelt das Gefühl, potent zu sein, Macht zu haben, das Richtige zu sagen. Das Argument mit dem Atlas, da kommt sich doch jede Person unglaublich toll, sparsam, alles wissend vor. Das ist eine Position, in der jemand von der Kanzel zu dir herunter spricht.

STANDARD: Herr Lacina, Sie hatten als Minister gerade erst begonnen, als die Verstaatlichte "zusammenbrach". Was hat dieses Scheitern für Sie politisch und ideell bedeutet?

Lacina: Also, erstens dieser Spruch vom Zusammenbruch der verstaatlichten Industrie vereinfacht sehr stark, weil es in Wirklichkeit eine globale Krise der Grundstoffindustrien war. Es hat natürlich eine ideologische Seite gehabt, also, um in der klassischen marxistischen Terminologie zu bleiben, so eine Art Gleichgewicht der Klassenkräfte – von dem Otto Bauer immer gesprochen hat – hat natürlich seinen Reiz gehabt: dass nämlich die Kommandohöhen der österreichischen Industrie in staatlicher Hand sind. Doch das Problem, das wir damals hatten, war zum einen – und das war aus meiner Sicht zu rechtfertigen –, dass mit staatlicher Unterstützung Arbeitsplätze erhalten bleiben. Aber es war nicht zu rechtfertigen, dass mit staatlicher Unterstützung spekuliert wird. Da war für mich der Ofen aus, und damit war auch klar, dass die Verstaatlichte in der Form, wie wir sie gekannt haben, nicht mehr weitergeführt werden kann. Wenn Sie so wollen, ist da sicher auch eine Idee gescheitert. Nur würde ich nach wie vor sagen, dass das, was von den anderen behauptet wurde, der Staat könne nicht wirtschaften und das könnten nur die Privaten ... (Pause) Wenn ich mir in der Zwischenzeit ansehe, wie viel an staatlichen Mitteln, insbesondere über die Rüstungsindustrie, in moderne Technologie, in die Forschung hineingepumpt wird, zuletzt in der Pandemie…

Streeruwitz: Genau. Die Impfstoffe, die wir bezahlen, die Entwicklung – und dann müssen wir sie noch kaufen.

Lacina: Natürlich. So ist es wirklich absurd, von dem auszugehen: "Mehr privat, weniger Staat".

Streeruwitz: Die Krise der Jahre 2007 und 2008. Krise ist da ja das beste Beispiel. Von da ging es endgültig bergab.

Lacina: Das war wirklich ein Scheitern des Neoliberalismus. Nur hat er es gut überlebt. Es ist ein schönes Scheitern.

Streeruwitz: Das beruht auf der dahinterliegenden Kultur, jetzt zum Beispiel die Hedgefonds der Börsen. Das sind alles Männer, Gruppen, die die wilde Jagd nachstellen, und letzten Endes sind das die Offizierskasinos, so wie sie Kraus schildert in den Letzten Tagen der Menschheit.

Lacina: Da gibt es aber auch Männer, die Margaret Thatcher heißen.

Streeruwitz: Das ist selbstverständlich. Wenn es eine Hegemonie gibt, wird es immer Leute geben, welchen Geschlechts auch immer, die sich angleichen, weil sie aufsteigen wollen. Und deswegen ist Aufsteigen, was übrigens ein Problem der Sozialdemokratie ist, eben falsch. Es geht nur in anderen Bewegungsformen, als sich immer der Hegemonie anzugleichen, in die Eliten vordrängen zu wollen. Es muss neue Formen geben, es muss ein gesellschaftliches Scheitern in Kauf genommen werden, um eine – sagen wir jetzt einmal – vollkommene, wunderbare und in allen Formen gültige Person zu werden, jede Person muss sich sagen, dass ihr Aufstieg zu streichen ist und dass es falsch ist, den Aufstieg in diese Eliten als Gewinn oder Sieg zu sehen. Das Scheitern ist hier das Programm, das notwendig ist, wenn wir über das gute Leben reden wollten. Diese Anpassungsvorgänge in der Form von Aufstieg, das hat nicht nur die Mary Vetsera umgebracht, sondern bringt alle um. Und Frau Thatcher ist eines der besten Beispiele, wie dieser Aufstieg in die Eliten und die dafür notwendige Anpassung aussieht. Ein Übertritt von einem Geschlecht ins andere führt dazu, dass das eigene, das frühere Geschlecht verunglimpft wird.

STANDARD: Der Schlachtruf des Neoliberalismus lautet: Es gibt keine Alternative. Der bundesdeutsche Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 24. März dieses Jahres skizziert etwa im Punkt A zunächst "Problem und Ziel", Punkt B führt "Lösungen" an, der Punkt C heißt "Alternativen", er besteht aus einem einzigen Wort: keine.

Streeruwitz: Demokratischerweise müsste dort stehen: "Wir sehen keine Alternative." Oder: "Wir wissen keine Alternative." Dann gibt es eine Möglichkeit, sich darauf einzustellen. Es als Naturgesetz darzustellen und zu sagen, es gibt nichts anderes als das, was jetzt so bestimmt wird, ist natürlich Diktatur, auch wenn wir das jetzt gerade nicht sagen dürfen, weil wir sonst als Rechtsradikale eingestuft werden.

Lacina: Die Machthaber haben es gern zu sagen, es gibt keine Alternativen. Es ist ihre Zielsetzung, Alternativen auszuschließen. Das ist besonders gern vom Neoliberalismus verwendet worden, bestimmte aber auch die Kriegserklärung des Franz Joseph an Serbien. Alle Machthaber haben immer die Meinung vertreten, es gibt keine Alternative, und die Fantasielosigkeit gehört auch zur Machtausübung dazu.

Streeruwitz: Und die einzige Alternative, die hier kulturell anerkannt ist, ist Kunst oder Literatur – als Kindergarten. Es hat sich in der Pandemie bewiesen, wie die Repressionen verteilt werden. Würden wir es jetzt schaffen, eine wirklich gleichwertige, in der Gleichwertigkeit beheimatete Solidarität zu entwickeln? Nach der Pandemie können wir sehen, welche Gruppen verloren haben. Und da liegt jetzt die Möglichkeit zu sagen, schauen wir, dass wir das gemeinsam lösen, das wäre ein großer Fortschritt. Das wird auch scheitern, aber das haben ja alle Dinge an sich, dass sie im Werden und Vergehen aufgehoben sind.(Stefan Gmünder, Martin Prinz, ALBUM, 14.6.2021)