Über den Literaturmarkt und darüber, was die Mehrheit der Leserschaft liest, erfährt man, zumindest in den Feuilletons, so gut wie nichts.

Illustration: Fatih Aydogdu

Zugegeben, ich lese nicht alles. Bei weitem nicht. Das geht sich bekanntlich auch gar nicht aus. Dem leider zu früh verstorbenen Germanistikprofessor und Literaturenthusiasten Wendelin Schmidt-Dengler verdanken wir die ernüchternde Einsicht, dass selbst hartnäckige Leser und Leserinnen in einem lebenslangen Lesemarathon nicht mehr als dreitausend Bücher schaffen.

Die Rechnung ist einfach. Ein Buch pro Woche gibt, abgerundet, fünfzig Bücher im Jahr, in sechzig Lesejahren sind das dann, fünfzig mal sechzig, dreitausend Romane. Oder Sachbücher. Je nachdem. Seit ich das weiß, sind mir Zeitgenossen, die stolz auf ihre zehntausend Bände umfassende Bibliothek verweisen, peinlich. Aber das ist eine andere Geschichte.

Wie aber kommen wir nun zu unserem Lesestoff? Wie entsteht sie, die eigene Bibliothek, die eigene Lesebiografie? Man kann die Literaturgeschichte abarbeiten, Bildungslücken schließen, auf dem Laufenden bleiben, mitreden oder sich schlicht und einfach unterhalten wollen. Wie immer man es anlegt: Der Mensch, so viel steht fest, braucht Orientierung.

Hilfe, Anleitung und Rat

Er braucht Hilfe, Anleitung und Rat. Also liest der Leser, bevor er liest, die Feuilletons, hört Radio, sieht fern. Redakteurinnen und Redakteure, die sich im Frühjahr und im Herbst durch die Verlagskataloge ackern, treffen eine Vorauswahl. Sie entscheiden, was lesenswert oder wenigstens diskussionswürdig ist und was nicht.

Die guten Bücher kommen ins Töpfchen, werden rezensiert oder zumindest vorgestellt, die weniger guten werden ignoriert. Das muss so sein. Platz in den Medien und Sendezeiten sind endliche Güter. Der überwiegende Teil der bei der Frankfurter oder der Leipziger Buchmesse präsentierten Neuerscheinungen wird in keiner Zeitung, in keiner Radiosendung auch nur erwähnt. Was bleibt, ist nötiger, aber purer Eklektizismus.

Die Rezensenten und Rezensentinnen arbeiten sich, falls es aus deren Küche etwas Neues gibt, an den Großmeistern ab, gelegentlich findet sich ein Einspalter über das Debüt einer jungen Autorin im Blatt, immer wieder einmal eine interessante Entdeckung aus den USA oder die Neuübersetzung eines Klassikers. In jedem Fall sind Feinspitze am Werk.

Wie der Opernredakteur das samtene Timbre vor allem in den Mittellagen zu rühmen weiß und sich – man ist schließlich Kritiker! – genötigt sieht, auf gewisse Unsicherheiten des Ausdrucks in den höheren Lagen hinzuweisen, seziert die Literaturkritik mit ihren Skalpellen das auserwählte Buch. Auswahlkriterien werden im Regelfall nicht mitgeliefert.

Man diskutiert die verhandelten Themen, referiert die Geschichte, spricht über Erzählperspektiven, analysiert gesellschaftliche und politische Bezüge, macht, so vorhanden, auf schiefe Bilder und schlechte Sätze aufmerksam, kontextualisiert und interpretiert.

"Die Uhudler-Verschwörung"

Wogegen auch nicht das Allergeringste einzuwenden ist. Auf die Kolleginnen und Kollegen von der Literaturkritik ist Verlass. Sie vermögen Gutes von weniger Gutem zu unterscheiden, die empfohlenen Bücher kann man getrost kaufen. Sie macht einen guten Job, unsere Literaturkritik. Man erfährt viel über manches.

Über den Literaturmarkt und darüber, was die Mehrheit der Leserschaft liest, erfährt man, zumindest in den Feuilletons, so gut wie nichts. Die Jahres-Bestsellerliste des Hauptverbands des Österreichischen Buchhandels für das Jahr 2020 weist an erster Stelle ein Buch auf, das den Radarschirm der Literaturkritik tief unterflogen hat. Auf Platz eins rangiert Thomas Stipsits’ Uhuhudler-Verschwörung, ein Burgendlandkrimi aus Stinatz. Mit seiner Kopftuchmafia nimmt Thomas Stipsits auch den dritten Platz in der Jahreshitparade des österreichischen Buchhandels ein.

Der Kabarettist, Schauspieler und Nebenerwerbsautor darf sich freuen. Auch wenn die Literaturkritik ihn völlig ignoriert. Auf Platz zwei der österreichischen Bestenliste findet sich ebenfalls das Werk eines Nebenerwerbsautors: Hubert Achleitners Roman flüchtig. In seinem Hauptberuf ist Achleitner unter dem Namen Hubert von Goisern Musiker. Österreich liebt seine Künstler halt. Auch wenn sie Bücher schreiben.

Nackte Zahlen und harte Tatsachen

Noch befremdlicher als die Bestsellerliste des österreichischen Buchhandels liest sich die des Spiegel. Sie gibt die aktuellen Verkaufszahlen im größten deutschsprachigen Markt unkommentiert wieder. Nackte Zahlen, harte Tatsachen. Von vielen der meistverkauften Bücher des Jahres 2020 in der Kategorie Belletristik hat der Literaturgourmet noch nie gehört. Sie wurden weder rezensiert noch vorgestellt, zumindest nicht in den Feuilletons.

Platz eins ergeht an Sebastian Fitzecks Psychothriller Der Heimweg, Platz zwei an Delia Owens Der Gesang der Flusskrebse, Platz drei an Ken Folletts Kingsbridge. Aber immerhin: Robert Seethalers Erzählung über die letzten Tage von Gustav Mahler (Der letzte Satz) rangiert auf Platz sieben, Monika Helfers Familiengeschichte Die Bagage nimmt im Jahresranking des Spiegel Platz zwanzig ein.

Von den Bestsellerlisten der Bild-Zeitung oder von Amazon wollen wir erst gar nicht reden. Fremde Welten tun sich auf. Der Leser rätselt. Man sollte sich in der Tat öfter durch die Büchertische an den Bahnhofskiosken wühlen, um nicht ganz den Anschluss an die reale Welt zu verlieren.

Nichts gegen Bestseller

Um Missverständnissen und dem Vorwurf arroganten Schnöseltums vorzubeugen: Ich habe rein gar nichts gegen Bestseller und auch nichts gegen Literatur, die ich selbst niemals lesen würde. Wenn Thomas Brezina Millionen von Kindern zum Lesen verführt, ist das in jedem Fall begrüßenswert. Bildungsbürgerliches Naserümpfen diskreditiert eher die Nasen der Bildungsbürger als die Autoren und Autorinnen erfolgreicher Bücher.

Es ist weitaus besser, die Menschen lesen Die Tribute von Panem von Suzanne Collins, ebenfalls ein Titel aus der Spiegel-Bestsellerliste, als sie lesen gar nichts. Schließlich ist unsereins ja auch mit Karl May groß geworden. Und nicht mit Franz Kafka oder Jean Paul.

Das Problem besteht schlicht darin, dass die Feuilletons, die Literaturkritik, uns nichts darüber erzählen, was das Volk, so es denn überhaupt zu Büchern greift, liest. Die Literaturkritik vermeidet es geradezu panisch, sich mit Ken Follett, Mark Elsberg oder Dan Brown auseinanderzusetzen, und trägt damit, auf ihre Weise, bei zur Verfestigung einer zweigeteilten Welt.

Hier die Trüffelschweine, da die Allesfresser, hier die Kunstsinnigen, da die Unterhaltungssüchtigen. Hier die Eliten, da das Volk. Die Spaltung der Gesellschaft spiegelt sich auch in den Relevanzhierarchien der Literaturberichterstattung wider. Brücken zwischen den Welten werden keine gebaut. Weder vom einen Ufer ans andere noch umgekehrt.

Gut, kann man sagen, es ist definitiv nicht die Aufgabe der Literaturkritik, knietief durch den literarischen Morast zu waten. Die Literaturkritik widmet sich primär ästhetischen und formalen Fragen, ist an sprachlichen und erzählerischen Entwicklungen im Lichte der Literaturgeschichte interessiert. Und da gibt es bei Stipsits und Fitzeck und Co halt nicht viel zu holen. Bekannte Muster, bekannte Genres, sprachlich allenfalls okay, mehr aber auch nicht.

Blockbuster und Beyoncé

Die Kolleginnen und Kollegen vom Film oder die Musikkritik scheinen diese Berührungsängste nicht zu kennen. Die Filmkritik, die der Unterhaltungsindustrie naturgemäß näher ist, meidet Blockbuster keineswegs. Nachgerade lustvoll wird all das vorgestellt, was man weder sehen will noch muss.

Aber immerhin: Man weiß, was die Branche tut. Auch die aktuellen Hervorbringungen von globalen Musikstars wie Lady Gaga oder Beyoncé werden verlässlich untersucht und bewertet.

Wobei es hier eine klar gezogene Untergrenze gibt. Die künstlerische Bewertung von heimischen Superstars wie Andrea Berg, Andreas Gabalier oder den Kastelruther Spatzen entfällt im Regelfall. Sie haben’s auch nicht nötig. Anderswo sind sie ohnehin omnipräsent.

Die Stars der Szene

Die Literaturkritik zieht, wie gesagt, ihre Grenzen wesentlich enger. Bestenlisten sind ihr in den meisten Fällen schlicht und ergreifend wurscht. Die Kritikerinnen und Kritiker denken nicht dar an, Literaturinteressierten einen Überblick zu verschaffen.

Sie erzählen uns nichts von den neunundneunzig Prozent, denen sie keine Beachtung schenken. Allerdings – man sollte nicht ungerecht sein. Zumindest nicht ungerechter als nötig. Arbeitsteilung ist auch den Medien nicht fremd. Wenn der Promifaktor zu mächtig oder der Erfolg zu groß ist, werden Autorinnen und Autoren und deren Werke in andere Ressorts ausgelagert. Das erspart der Literaturkritik die Bewertung, dem Anspruch nach möglichst umfassender Information ist dennoch Genüge getan.

Die Stars der Szene werden dann anderswo porträtiert, interviewt und vor den Vorhang gebeten. Sie publizieren Essays zum Zeitgeschehen und kommentieren das aktuelle Geschehen. Ö1 etwa verwendet das morgendliche Leporello als Entlastungsgerinne, die Büchersendung Ex Libris widmet sich der hehren, wenn auch nicht immer holden Kunst.

Und wenn der deutsche Milliardär und Drogeriekönig Dirk Roßmann mit einem politischen Science-Fiction-Thriller (Der neunte Arm des Oktopus) wochenlang die Bestsellerlisten dominiert, dann, ja dann kann auch der Spiegel daran nicht mehr vorbei. Man fragt sich zwar, wie "ein Buch mit einer so plumpen Story so erfolgreich" werden konnte, findet aber umgehend die passende Antwort. Der Mann hat unfassbar viel Geld für die Vermarktung seines Buches ausgegeben. Er verkauft seine Bücher in der Drogerie.

Wäre doch schade, wenn wir das nicht auch erfahren hätten. (Peter Klein, ALBUM, 13.6.2021)